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| „Pater Werenfried war überragender Europäer und Motor der Versöhnung“2. August 2020 in Weltkirche, keine Lesermeinung Vor 70 Jahren stellten „Wiesbadener Abkommen“ und „Charta der Vertriebenen“ Weichen für die Zukunft der Heimatvertriebenen Wien-München (kath.net/KIN) Der 4. und 5. August 2020 sind zwei wichtige Gedenktage für die nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen Deutschen: Das „Wiesbadener Abkommen“ und die „Charta der Vertriebenen“ wurden vor 70 Jahren unterzeichnet. Beide Dokumente sind Meilensteine der Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen – und ein Beispiel christlicher Aussöhnungsbemühungen. Für sie hat sich auch der Gründer des weltweiten päpstlichen Hilfswerks „Kirche in Not“, Pater Werenfried van Straaten (1913-2003), stark gemacht. Der Ordensmann bat ab 1947 seine flämischen und niederländischen Landsleute um Hilfe für die heimatvertriebenen Deutschen. Schon zuvor hatte er eine „Anti-Hass-Liga“ gegründet und zur Aussöhnung aufgerufen.
Über die die Rolle der Kirche im Versöhnungsprozess gibt der Europapolitiker und Vorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft Bernd Posselt (CSU) Auskunft. Volker Niggewöhner von „Kirche in Not“ Deutschland hat mit ihm gesprochen.
Volker Niggewöhner: Herr Posselt, Sie sind Jahrgang 1956, haben also die Vertreibung der Deutschen nicht miterlebt. Warum wurden die Themen Vertreibung und Versöhnung dennoch zu Ihren Lebensthemen? Meine Familie hat seit dem 12. Jahrhundert in den böhmischen Ländern gelebt, ist also böhmisches Urgestein. Daher empfinde ich mich auch als Böhme. Eine so lange Geschichte wischt man ja nicht einfach weg.
Wenn man die geschichtlichen Umstände des „Wiesbadener Abkommens“ und der „Charta der Vertriebenen“ betrachtet, muss man sie zum damaligen Zeitpunkt 1950 als sensationell bezeichnen. Wie war so kurz nach dem Krieg die Gemütslage auf der deutschen und der tschechischen Seite? Bei den Tschechen war natürlich eine große Wut vorhanden über das erlittene Leid durch die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Unterdrückung. Trotzdem muss man feststellen, dass die Vertreibung und Entrechtung der Sudetendeutschen kein spontaner Wutausbruch war, sondern ein eiskalt geplantes Nachkriegsverbrechen. Denn die große Masse der Sudetendeutschen wurde erst im Jahr 1946 vertrieben, als man im Westen schon längst wiederaufgebaut hat. Es handelte sich also nicht um einen spontanen Racheakt, es war eine ethnische Säuberung. Auch auf sudetendeutscher Seite waren die Menschen zutiefst verzweifelt und zum Teil auch voller Wut und Rachegedanken. Deshalb war es eine unglaubliche Leistung, die Charta der Heimatvertriebenen zu formulieren, mit der Vision eines gemeinsamen Europa und mit dem berühmten Verzicht auf Rache und Vergeltung. Welche Rolle haben die Kirchen bei diesen Versöhnungsbemühungen gespielt?
Die Unterstützung der Heimatvertriebenen und ihrer Seelsorger war auch die erste Aufgabe des Hilfswerks „Kirche in Not“ und seines Gründers Pater Werenfried van Straaten. Wie sehen Sie seine Rolle? Werenfried van Straaten war eine unserer zentralen Persönlichkeiten. Wir Sudetendeutschen haben Pater Werenfried deshalb 1965 unsere höchste Auszeichnung, den „Europäischen Karlspreis der Sudetendeutschen“, verliehen.
Bereits einen Tag vor der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ wurde das „Wiesbadener Abkommen“ unterzeichnet, das aber weniger bekannt ist ... Zu Unrecht, weil es vielleicht das noch bedeutendere Dokument war. Denn die Charta war eine feierliche Erklärung aller Landsmannschaften. Das Wiesbadener Abkommen ging aber noch einen Schritt weiter, denn es war bilateral. Hier haben die Sudetendeutschen einen Vertrag mit Exil-Tschechen gemacht, in dem beide Seiten den Wunsch bekundeten, in der Tschechoslowakei demokratische Verhältnisse herzustellen und den Sudetendeutschen die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen. Ähnlich wie in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen wurde eine Kollektivschuld für das gegenseitig zugefügte Unrecht abgelehnt, gleichzeitig aber eine Bestrafung der Hauptverantwortlichen gefordert. Deshalb sind diese Exil-Tschechen in der Heimat von den seit 1948 regierenden Kommunisten auch als Kollaborateure beschimpft worden. Das aber zu Unrecht, denn der bekannteste Vertreter dieser Exilpolitiker, General Lev Prchala, war ein tapferer Anti-Nationalsozialist, der gegen Hitler kämpfen wollte, während z.B. Edvard Beneš 1938 geflohen ist. Und dieser General Prchala hat sich mit den Vertretern der Sudetendeutschen im zerstörten Wiesbaden zusammengesetzt und ein Abkommen geschlossen, das die Weichen gestellt hat für die Charta am nächsten Tag. Es hat also neben den Kirchen auch die Politik eine bedeutende Rolle gespielt.
Haben das Wiesbadener Abkommen und die Charta der Heimatvertriebenen auch in der Zeit des „Kalten Krieges“ eine Bedeutung gehabt bis zur politischen Wende? Selbstverständlich. Sie waren erstens die Grundlage für Beziehungen zum Exil, die sehr intensiv waren. Oder auch für den Kontakt zur Untergrundkirche. Die Ackermann-Gemeinde, also die katholische Gesinnungsgemeinschaft der Sudetendeutschen, aber auch die Landsmannschaft und die Paneuropa-Union und viele andere Organisationen haben jahrzehntelang für die Untergrundkirche über den Eisernen Vorhang hinweg geschmuggelt: Bibeln, Manuskripte, Informationen, Druckmaschinen. Umgekehrt haben wir verbotene Werke von Untergrundautoren herübergebracht. Wir waren mit der Bürgerrechtsbewegung eng verbunden, mit den christlichen Gemeinschaften, mit den jüdischen Gemeinschaften, die eine ganz große Rolle spielen.
Wie ist das Verhältnis zu Tschechien seit der politischen Wende vor 30 Jahren und was sind die größten Schwierigkeiten? Da gibt es ganz viel Positives zu berichten, aber Normalität gibt es noch längst nicht. Es war ein gewaltiger Schritt, dass der tschechische Kulturminister Daniel Herman beim Sudetendeutschen Tag 2016 auf der Hauptkundgebung gesprochen hat. Herman wird heute noch auf Schritt und Tritt attackiert. Im Moment ist in der Tschechischen Republik, würde ich sagen, die Mehrheit der Parteien im Parlament europäisch orientiert, sie ist für den Dialog mit den Sudetendeutschen auch durchaus offen. Aber ich erlebe es immer wieder, dass ein Gesprächspartner sagt: „Treffen wir uns lieber heimlich, sonst habe ich Ärger oder werde nicht wiedergewählt“. Da ist noch sehr vieles zu tun.
Der Einsatz für Minderheitenrechte ist Schwerpunkt Ihrer politischen Arbeit. Sie haben in diesem Zusammenhang die Europäische Union einmal als „minderheitenblind“ bezeichnet. Wo macht die EU hier Fehler? Man muss zunächst einmal sehen, dass die verschiedenen traditionellen Volksgruppen wie die Sorben in Sachsen und Brandenburg, die Dänen in Schleswig-Holstein, die Südtiroler in Italien, die Katalanen in Spanien usw., zusammengenommen mehr Menschen ausmachen als Frankreich Einwohner hat. Sie sind sozusagen zusammengezählt nach Deutschland der zweitgrößte EU-Mitgliedstaat. Aber da sich die EU aus Nationalstaaten zusammensetzt, haben diese Volksgruppen und Minderheiten nie eine Stimme gehabt. Geändert hat sich das erst mit der ersten Direktwahl des Europaparlaments nach 1979, weil es da plötzlich einen baskischen Abgeordneten gab, einen Südtiroler Abgeordneten etc. Deshalb wurde das Europaparlament zum Motor eines europäischen Volksgruppen- und Minderheitenrechts.
Gerade haben wir zusammen mit der „Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen“ ein Bürgerbegehren veranstaltet. Dabei geht es um die Minderheitenrechte und deren Verankerung, die bisher noch schwach ist. Deshalb kämpfen wir dafür, dass der Minderheitenschutz in die künftigen europäischen Verträge oder, wenn möglich, in eine zukünftige europäische Verfassung aufgenommen wird.
Den Vertriebenenverbänden wird oft Rückschrittlichkeit oder gar Revanchismus vorgeworfen. Können Sie mit Ihren Themen Wiederaufarbeitung der Geschichte und Versöhnung überhaupt die Jugend erreichen? Wir machen extrem viel Jugendarbeit. Unsere Sudetendeutsche Jugend hat zum Beispiel eine Partnerorganisation in der Tschechischen Republik. Die Gruppen treffen sich mehrfach jährlich. Sie machen gemeinsame Seminare, Reisen, da geschieht sehr, sehr viel. Und dann gibt es über die organisierte Jugend hinaus immer mehr Aktivitäten an Schulen. Ich bin oft an Schulen in Deutschland und der Tschechischen Republik und bin beeindruckt, wie sehr die jungen Leute sich dafür interessieren, wenn man ihnen das Thema vernünftig näherbringt. Aber automatisch geschieht das natürlich nicht. Von nichts kommt nichts.
Das ausführliche Interview mit Bernd Posselt ist am Sonntag, 2. August, von 8:00 bis 8:45 Uhr auf Radio Horeb in der Sendung „Weltkirche aktuell“ zu hören.
Foto: Pater Werenfried van Straaten am „Eisernen Vorhang“ nach Osteuropa. © Kirche in Not Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte helfen Sie kath.net und spenden Sie jetzt via Überweisung oder Kreditkarte/Paypal! LesermeinungenUm selbst Kommentare verfassen zu können müssen Sie sich bitte einloggen. Für die Kommentiermöglichkeit von kath.net-Artikeln müssen Sie sich bei kathLogin registrieren. Die Kommentare werden von Moderatoren stichprobenartig überprüft und freigeschaltet. Ein Anrecht auf Freischaltung besteht nicht. Ein Kommentar ist auf 1000 Zeichen beschränkt. Die Kommentare geben nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wieder. | Mehr zuDeutschland
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