24. Oktober 2024 in Aktuelles
Papst Franziskus hat am Donnerstag seine vierte Enzyklika veröffentlicht, über die menschliche und göttliche Liebe des Herzens Jesu Christi - WORTLAUT auf kath.net
Rom (kath.net)
1. „Er hat uns geliebt“, sagt Paulus über Christus (vgl. Röm 8,37), um uns erkennen zu lassen, dass uns nichts von dieser Liebe „scheiden kann“ (vgl. Röm 8,39). Paulus sagte dies mit Überzeugung, denn Christus selbst hatte seinen Jüngern versichert: „Ich habe euch geliebt“ (vgl. Joh 15,9.12). Er hat uns auch gesagt: „Ich nenne euch Freunde“ (vgl. Joh 15,15). Sein offenes Herz kommt uns zuvor und wartet bedingungslos auf uns, ohne Vorleistungen zu erwarten, um uns lieben und uns seine Freundschaft anbieten zu können: Er hat uns zuerst geliebt (vgl. 1 Joh 4,10). Dank Jesus „haben wir die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen“ (vgl. 1 Joh 4,16).
I. DIE WICHTIGKEIT DES HERZENS
2. Um die Liebe Christi auszudrücken wird oft das Symbol des Herzens verwendet. Manche fragen sich, ob es heute noch eine gültige Bedeutung besitzt. Aber wenn wir versucht sind, uns an der Oberfläche zu bewegen, in Hektik zu leben, ohne letztendlich zu wissen, wozu, wenn wir Gefahr laufen, zu unersättlichen Konsumenten zu werden, zu Sklaven eines Marktsystems, das sich nicht für den Sinn unseres Lebens interessiert, dann tut es not, die Bedeutung des Herzens wieder neu zu entdecken.[1]
Was meinen wir, wenn wir vom „Herzen“ sprechen?
3. Im altgriechischen profanen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff kardia das Innerste des Menschen, der Tiere und der Pflanzen. Bei Homer bezeichnet er nicht nur das körperliche, sondern auch das seelische und geistige Zentrum der menschlichen Person. In der Ilias sind Denken und Fühlen dem Herzen zugeordnet und eng miteinander verbunden.[2] Das Herz erscheint als Zentrum des Strebens und als Ort, an dem sich die wichtigen Entscheidungen des Menschen herausbilden.[3] Bei Platon übernimmt das Herz gewissermaßen eine „synthetisierende“ Funktion für das Rationale und die Neigungen im Menschen, da sowohl der Befehl der höheren Seelenvermögen als auch die Leidenschaften durch die Adern übertragen werden, die im Herzen zusammenlaufen[4]. Seit der Antike haben wir also erkannt, wie wichtig es ist, den Menschen nicht als eine Summe verschiedener Fähigkeiten zu betrachten, sondern als eine leiblich-geistige Einheit mit einem einheitstiftenden Zentrum, das allem, was der Mensch erlebt, einen Sinn- und Orientierungshintergrund verleiht.
4. Die Bibel sagt: »Lebendig ist das Wort Gottes, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; […] es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens« (Hebr 4,12). Es spricht damit von einem Wesenskern, dem Herzen, der sich hinter allen Äußerlichkeiten verbirgt, auch hinter oberflächlichen Gedanken, die uns verwirren. Die Emmausjünger durchlebten während ihres geheimnisvollen Weges mit dem auferstandenen Christus einen Zustand der Angst, der Verwirrung, der Verzweiflung und der Enttäuschung. Doch hinter allem und trotz allem ging in der Tiefe etwas in ihnen vor: »Brannte nicht unser Herz in uns, als er unterwegs mit uns redete?« (Lk 24,32).
5. Gleichzeitig ist das Herz der Ort der Aufrichtigkeit, wo man nicht täuschen oder sich verstellen kann. Normalerweise zeigt es die wahren Absichten an, das, was man wirklich denkt, glaubt und will, die „Geheimnisse“, die man niemandem erzählt, also letztlich die eigene nackte Wahrheit. Es ist nicht Schein oder Lüge, sondern das, was authentisch, echt, ganz und gar „das Eigene“ ist. Deshalb wurde Simson von Delila, als er ihr das Geheimnis seiner Stärke nicht verriet, gefragt: »Wie kannst du sagen: Ich liebe dich!, wenn mir dein Herz nicht gehört?« (Ri 16,15). Erst als er ihr sein verborgenes Geheimnis offenbarte, erkannte sie, »dass er ihr sein Herz offengelegt hatte« (Ri 16,18).
6. Diese Wahrheit eines jeden Menschen ist oft unter viel Blattwerk verborgen und verdeckt. Das macht es schwierig, sich selbst mit Gewissheit zu erkennen, und noch schwieriger, einen anderen Menschen zu kennen: »Arglistig ohnegleichen ist das Herz und unverbesserlich. Wer kann es ergründen?« (Jer 17,9). So verstehen wir, warum das Buch der Spruchwörter uns ermahnt: »Mehr als alles hüte dein Herz; denn von ihm geht das Leben aus. Vermeide alle Falschheit des Mundes« (Spr 4,23-24). Der bloße Schein, Verstellung und Täuschung schaden dem Herz und verderben es. Jenseits der vielen Versuche, etwas zu zeigen oder auszudrücken, was wir nicht sind, ist das Herz das alles Entscheidende: dort zählt nicht, was man nach außen hin zeigt oder was man verbirgt, dort sind wir wir selbst. Und das ist die Grundlage eines jeden tragfähigen Plans für unser Leben, denn ohne das Herz kann nichts von Wert aufgebaut werden. Äußerlichkeiten und Lügen bieten nur Leere.
7. Als Metapher möchte ich an etwas erinnern, das ich bereits bei einer anderen Gelegenheit erzählt habe: »Als wir Kinder waren, hat uns unsere Großmutter zu Karneval Schmalzgebäck gemacht, und es war ein sehr sehr leichter Teig; der Teig, den sie machte, war leicht. Dann legte sie ihn ins Öl und der Teig blähte sich auf; er blähte sich auf, und wenn wir ihn aßen, war er innen hohl. Dieses Gebäck wurde im Dialekt mentiras genannt. Und die Großmutter erklärte uns, warum: Dieses Gebäck ist wie eine Lüge, es sieht groß aus, aber drinnen ist nichts, es ist nichts Wahres drinnen, kein Inhalt«.[5]
8. Anstatt nach oberflächliche Befriedigungen zu suchen und den anderen etwas vorzuspielen, ist es besser, wichtige Fragen aufkommen zu lassen: wer bin ich wirklich, was suche ich, welchen Sinn will ich meinem Leben, meinen Entscheidungen oder meinen Handlungen geben; warum und wozu bin ich auf dieser Welt, wie will ich mein Leben bewerten, wenn es zu Ende geht, welchen Sinn will ich allem, was ich erlebe, geben, wer will ich vor den anderen sein, wer bin ich vor Gott. Diese Fragen führen mich zu meinem Herzen.
Rückkehr zum Herzen
9. In dieser flüssigen Welt ist es notwendig, wieder vom Herzen zu sprechen, als dem Ort, wo in jedem Menschen, gleich welcher Herkunft und Lebensbedingung, alles zusammenkommt, wo all die anderen Kräfte, Überzeugungen, Leidenschaften und Entscheidungen der konkreten Menschen entspringen und verwurzelt sind. Aber wir bewegen uns in Gesellschaft von Serienkonsumenten, die in den Tag hineinleben und von den Rhythmen und dem Lärm der Technologie beherrscht werden, ohne viel Geduld für die Prozesse, die die Innerlichkeit erfordert. In der heutigen Gesellschaft läuft der Mensch »Gefahr, den Mittelpunkt, seine eigene Mitte zu verlieren«.[6] »Der Mensch von heute ist oft zerstreut, gespalten, fast ohne ein inneres Prinzip, das in seinem Denken und Handeln Einheit und Harmonie schafft. Vielverbreitete Verhaltensmodelle verschärfen die technologisch-rationelle oder, umgekehrt, triebmäßige Dimension«.[7] Es fehlt das Herz.
10. Die flüssige Gesellschaft ist ein aktuelles Problem, doch die Abwertung des innersten Zentrums des Menschen ̶ des Herzens ̶ reicht viel weiter zurück: Wir finden sie bereits im griechischen und vorchristlichen Rationalismus, im nachchristlichen Idealismus oder im Materialismus in seinen verschiedenen Formen. Das Herz hat in der Anthropologie kaum eine Rolle gespielt, und dem großen philosophischen Denken ist es offenabar fremd. Ihm wurden andere Begriffe wie Vernunft, Wille oder Freiheit vorgezogen. Die Bedeutung des Herzens ist vage und ihm wurde kein spezifischer Platz im menschlichen Leben eingeräumt. Vielleicht, weil es nicht einfach war, es unter die „klaren und deutlichen“ Ideen einzureihen, oder aufgrund der Schwierigkeit, die die Selbsterkenntnis mit sich bringt: Es scheint, dass unser Innerstes für unser Erkennen zugleich das Entfernteste ist. Wahrscheinlich liegt das daran, dass die Begegnung mit dem anderen nicht als Weg der Selbstfindung etabliert ist, weil das Denken wieder einmal zu einem ungesunden Individualismus führt. Viele haben sich bei der Konstruktion ihrer Denksysteme im besser kontrollierbaren Bereich der Intelligenz und des Willens sicher gefühlt. Und weil man keinen eigenen Platz für das Herz fand, der sich von den jeweils separat betrachteten menschlichen Vermögen und Leidenschaften unterschied, wurde nicht einmal die Idee eines personalen Zentrums – in dem das Einzige, was alles vereinen kann, letztlich die Liebe ist – weiter entfaltet.
11. Wenn man das Herz abwertet, verliert auch das Mit-dem-Herzen- sprechen, das Mit-dem-Herzen-handeln, das Reifen und Heilen im Herzen an Bedeutung. Wenn das Spezifische des Herzens nicht anerkannt wird, gehen uns die Antworten verloren, die der Verstand allein nicht geben kann, verlieren wir die Begegnung mit den Anderen, verlieren wir die Poesie. Und wir verlieren die Geschichte und unsere Geschichten, denn das wahre persönliche Abenteuer nimmt im Herzen seinen Ausgang. Am Ende des Lebens wird nur das von Bedeutung sein.
12. Es muss gesagt werden, dass wir ein Herz haben, dass unser Herz mit anderen Herzen koexistiert, die ihm helfen, ein „Du“ zu sein. Da wir dieses Thema nicht ausführlich behandeln können, wollen wir auf eine Romanfigur verweisen, nämlich Dostojewskis Stawrogin.[8] Romano Guardini zeigt ihn als die Verkörperung des Bösen schlechthin, denn sein Hauptmerkmal ist, dass er kein Herz hat: »Stawrogin aber hat kein Herz; so ist sein Geist kalt und entleert, und sein Körper vergiftet sich in Trägheit und „tierischer“ Sinnlichkeit. So kann er auch nicht zum anderen Menschen kommen, und keiner kommt wirklich zu ihm. Denn das Herz ist’s, was Nähe schafft. Durch das Herz bin ich beim anderen, und ist jener bei mir. Nur das Herz kann einlassen, Heimat geben. Innigkeit ist Akt und Sphäre des Herzens. Stawrogin aber ist fern. […] Ja weit weg auch von sich selbst. Auch sich selbst inne ist der Mensch im Herzen, nicht im Geiste. Im Geiste sich innezusein, ist nicht Menschensache. Wenn aber das Herz nicht lebt, steht der Mensch neben sich«.[9]
13. Wir müssen alle Handlungen unter die „politische Herrschaft“ des Herzens stellen; Aggressivität und zwanghafte Begierden müssen durch das höhere Gut, das das Herz ihnen bietet, und durch die Kraft, die es gegen das Böse besitzt, gemildert werden. Auch Intelligenz und Wille müssen sich in seinen Dienst stellen, indem sie Wahrheiten eher verspüren und verkosten, anstatt sie beherrschen zu wollen, wie es manche Wissenschaften zu tun pflegen. Der Wille soll das höhere Gut begehren, das das Herz erkennt, und auch die Vorstellungskraft und die Gefühle sollen sich vom Herzschlag mäßigen lassen.
14. Man könnte sagen, dass ich letztlich mein Herz bin, denn es ist das, was mich ausmacht, was mich in meiner geistigen Identität prägt und mich mit den anderen Menschen verbindet. Der Algorithmus, der in der digitalen Welt am Werk ist, zeigt, dass unsere Gedanken und unsere Willensentscheidungen viel mehr „Standard“ sind, als wir gedacht hätten. Sie sind leicht vorhersehbar und manipulierbar. Nicht so das Herz.
15. Es handelt sich um ein wichtiges Wort für eine Philosophie und Theologie, die eine ganzheitliche Synthese anstreben. Tatsächlich kann das Wort „Herz“ weder von der Biologie, noch von der Psychologie, noch von der Anthropologie oder sonst einer Wissenschaft erschöpfend erklärt werden. Es ist eines jener ursprünglichen Worte, »die Wirklichkeiten des Menschen bezeichnen, die ihm zukommen, insofern er gerade ein ganzer (als leiblich-geistige Person) ist«.[10] So ist der Biologe nicht realistischer, wenn er vom Herzen spricht, denn er sieht nur einen Teil davon, und das Ganze ist nicht weniger real, sondern sogar mehr. Nicht einmal eine abstrakte Sprache könnte die gleiche konkrete und zugleich umfassende Bedeutung haben. Wenn das „Herz“ uns zur innersten Mitte unserer Person führt, ermöglicht es uns auch, uns in unserer Gesamtheit zu erkennen und nicht nur unter einem einzelnen Aspekt.
16. Andererseits hilft uns diese einzigartige Kraft des Herzens zu verstehen, warum es heißt, dass wir eine Wirklichkeit besser und vollständiger erkennen, wenn wir sie mit dem Herzen erfassen. Dies führt uns unweigerlich zur Liebe, zu der das Herz fähig ist, da »das Innerste der Wirklichkeit Liebe ist«.[11] Nach der Interpretation eines zeitgenössischen Denkers beginnt für Heidegger die Philosophie nicht mit einem reinen Begriff oder einer Gewissheit, sondern mit einer Ergriffenheit: »Das Denken muss ergriffen sein, bevor bzw. während es mit den Begriffen arbeitet. Ohne die Ergriffenheit kann das Denken nicht beginnen. Die Gänsehaut wäre das erste Denkbild. Es ist die Ergriffenheit, die erst zu denken und zu fragen gibt: „Philosophie geschieht je in einer Grundstimmung“«.[12] Und hier tritt das Herz in Erscheinung, das »die Grundstimmungen hütet, [das] als eine „Hüterin der Grundstimmung“ arbeitet. Das „Herz“ hört nicht-metaphorisch die „lautlose Stimme“ des Seins, indem es sich davon stimmen und be-stimmen lässt«.[13]
Das Herz, das die Bruchstücke vereinigt
17. Gleichzeitig ermöglicht das Herz jede echte Bindung, denn eine Beziehung, die nicht mit dem Herzen gestaltet wird, ist nicht in der Lage, die Fragmentierung des Individualismus zu überwinden: Es würden nur zwei Monaden weiterbestehen, die aneinandergrenzen, aber sich nicht wirklich verbinden. Das Anti-Herz ist eine Gesellschaft, die zunehmend von Narzissmus und Selbstbezogenheit beherrscht wird. Schließlich kommt es zum „Verlust der Sehnsucht“, weil der andere aus dem Blickfeld gerät und wir uns in uns selbst verschließen, ohne die Fähigkeit zu gesunden Beziehungen.[14] Infolgedessen werden wir unfähig, Gott anzunehmen. Wie Heidegger sagen würde: Um das Göttliche zu empfangen, müssen wir ein »Gasthaus« bauen.[15]
18. Wir sehen also, dass es im Herzen eines jeden Menschen diese paradoxe Verbindung zwischen Selbstwertgefühl und Offenheit für andere gibt, zwischen der ganz persönlichen Begegnung mit sich selbst und dem Geschenk seiner Selbst an andere. Wir werden nur dann wir selbst, wenn wir die Fähigkeit erlangen, den anderen anzuerkennen, und wir begegnen dem anderen, wenn wir in der Lage sind, die eigene Identität anzuerkennen und zu akzeptieren.
19. Das Herz ist auch fähig, die eigene persönliche Geschichte zu einen und zu harmonisieren, die in tausend Teile zersplittert zu sein scheint, in der aber dennoch alles einen Sinn haben kann. Das ist es, was das Evangelium zum Ausdruck bringt, wenn es von dem Blick Marias spricht, die mit dem Herzen sah. Sie verstand es, mit den bewahrten Erfahrungen in einen Dialog zu treten, indem sie sie in ihrem Herzen erwog und ihnen Zeit gab, indem sie sie vergegenwärtigte und in ihrem Inneren bewahrte, um sich zu erinnern. Im Evangelium kommt das, was ein Herz denkt, am besten in den beiden Stellen des Lukasevangeliums zum Ausdruck, wo es heißt: »Maria aber bewahrte (syneterei) alle diese Worte und erwog sie (symballousa) in ihrem Herzen« (Lk 2,19; vgl. 2,51). Das Verb symballein (wovon das Wort „Symbol“ abgeleitet ist) bedeutet abwägen, zwei Dinge im Kopf zusammenbringen und sich selbst prüfen, nachdenken, mit sich selbst Zwiesprache halten. In Lk 2,51 bedeutet dieterei „sie bewahrte mit Sorgfalt auf“, und das, was sie bewahrte, war nicht nur „die Szene“, die sie sah, sondern auch das, was sie noch nicht verstand und das doch gegenwärtig und lebendig blieb, in Erwartung, im Herzen zusammengefügt zu werden.
20. Im Zeitalter der künstlichen Intelligenz dürfen wir nicht vergessen, dass zur Rettung des Menschen Poesie und Liebe notwendig sind. Was kein Algorithmus erfassen kann, ist zum Beispiel der Augenblick in der Kindheit, an den man sich mit Zärtlichkeit erinnert und der, obwohl die Jahre verstreichen, immer noch überall auf dem Planeten stattfindet. Ich denke daran, wie wir mit unseren Müttern oder Großmüttern die Ränder der selbstgemachten Panzerotti mit einer Gabel verschlossen. In diesem Moment des Kochenlernens, auf halbem Weg zwischen Spiel und Erwachsensein, übernimmt man die Verantwortung der Arbeit, um den anderen zu helfen. Ich könnte Tausende solcher kleinen Details, wie das von der Gabel, aufzählen, die die Biografien aller Menschen ausmachen: mit einem Witz ein Lächeln zu erzeugen, das Abpausen einer Zeichnung im Gegenlicht eines Fensters, das erste Fußballspiel mit einem Lumpenball, das Aufbewahren von Würmern in einem Schuhkarton, das Trocknen einer Blume zwischen den Seiten eines Buches, die Sorge um einen Vogel, der aus dem Nest gefallen ist, sich beim Abzupfen der Blätter eines Gänseblümchens etwas zu wünschen. All diese kleinen Details, das Gewöhnlich- Außergewöhnliche, lässt sich nicht in Algorithmen fassen. Denn die Gabel, die Witze, das Fenster, der Ball, der Schuhkarton, das Buch, der Vogel, die Blume ... haben mit der Zärtlichkeit zu tun, die man in den Erinnerungen des Herzens bewahrt.
21. Der Kern eines jeden Menschen, also sein Innerstes, ist nicht der Kern der Seele, sondern der ganzen Person in ihrer einzigartigen Identität, die aus Seele und Leib besteht. Alles ist im Herzen vereint, das der Sitz der Liebe mit all ihren geistigen, seelischen und sogar körperlichen Komponenten sein kann. Letztendlich kommt der Mensch dann voll und ganz zu seiner Identität, wenn im Herzen die Liebe regiert, denn jeder Mensch wurde vor allem für die Liebe geschaffen; er ist bis in seine tiefsten Fasern hinein dazu geschaffen, zu lieben und geliebt zu werden.
22. Wenn man daher sieht, wie immer neue Kriege aufeinander folgen, mithilfe der Komplizenschaft, der Duldung oder der Gleichgültigkeit anderer Länder oder mit bloßen Machtkämpfen um Eigeninteressen, könnte man meinen, dass die Weltgemeinschaft ihr Herz verliert. Man muss sich nur die älteren Frauen der verschiedenen Kriegsparteien ansehen und anhören, die Gefangene dieser verheerenden Konflikte sind. Es bricht einem das Herz, wenn man sieht, wie sie um ihre ermordeten Enkelkinder trauern, oder wenn man hört, wie sie sich den Tod wünschen, weil sie das Haus, in dem sie immer gelebt haben, verloren haben. Sie, die in ihrem schwierigen und aufopferungsvollen Leben so oft ein Vorbild an Stärke und Widerstandskraft waren, erfahren nun in der letzten Lebensphase nicht den wohlverdienten Frieden, sondern Angst, Furcht und Empörung. Die Schuld auf andere zu schieben, löst dieses beschämende Drama nicht. Großmütter weinen zu sehen, ohne dies unerträglich zu finden, ist ein Zeichen für eine herzlose Welt.
23. Beim Nachdenken, beim Suchen, beim Meditieren über das eigene Sein und die eigene Identität, bei der Beschäftigung mit den höheren Fragen, beim Nachdenken über den Sinn des eigenen Lebens, bei der Suche nach Gott, selbst wenn man den Eindruck hat, etwas von der Wahrheit erahnt zu haben, bedarf es doch letztlich einer höchsten Erfüllung in der Liebe. In der Liebe spürt der Mensch, dass er weiß, warum und zu welchem Zweck er lebt. So mündet alles in Verbindung und Harmonie. Deshalb ist die vielleicht entscheidendste Frage, die sich jeder angesichts des eigenen persönlichen Geheimnisses stellen kann: Habe ich ein Herz?
Das Feuer
24. Dies hat Folgen für die Spiritualität. So hat beispielsweise die Theologie der Geistlichen Übungen des heiligen Ignatius von Loyola den affectus als Prinzip. Die diskursive Dimension baut auf einem grundsätzlichen Wollen auf (mit der ganzen Kraft des Herzens), das der Aufgabe, das Leben neu zu ordnen, Kraft und Ressourcen verleiht. Die Regeln und die Gestaltung der Schauplätze, die Ignatius vorgibt, erfolgen auf der Grundlage eines „Fundaments“, das sich von ihnen unterscheidet, nämlich dem Unbekannten des Herzens. Michel de Certeau zeigt, wie die „Regungen“, von denen der heilige Ignatius spricht, ein Hereinbrechen des Willens Gottes und eines Wollens des eigenen Herzens sind, die von der offenkundigen Ordnung unterschieden bleiben. Etwas Unerwartetes beginnt im Herzen des Menschen zu sprechen, etwas, das aus dem Unerkennbaren hervorgeht, entfernt die Oberfläche dessen, was bekannt ist, und stellt sich ihm entgegen. Es ist der Beginn einer neuen „Ordnung des Lebens“, die vom Herzen ausgeht. Es geht nicht um rationale Diskurse, die man in die Praxis umsetzen müsste, indem man sie ins Leben übersetzt, so als ob die Affektivität und die Praxis nur – abhängige – Folgen eines gesicherten Wissens wären.[16]
25. Dort, wo der Philosoph mit seinem Denken stehen bleibt, liebt das gläubige Herz, es betet an, bittet um Vergebung und erklärt sich bereit, an dem Platz zu dienen, den der Herr ihm anbietet, um ihm zu folgen. Dann erkennt es, dass es Gottes „Du“ ist und dass es ein „Ich“ sein kann, weil Gott ein „Du“ für es ist. Tatsache ist, dass nur der Herr uns anbietet, uns stets und für immer wie ein Du zu behandeln. Seine Freundschaft anzunehmen, ist eine Herzensangelegenheit und macht uns zu Personen im vollen Sinne des Wortes.
26. Der heilige Bonaventura sagte, letztendlich solle man nicht das Licht erbitten, »sondern das Feuer«.[17] Und er lehrte, »der Glaube ist so in der Vernunft, dass er den Affekt hervorruft. Zum Beispiel: das Erkennen, dass Christus „für uns“ gestorben ist, bleibt nicht Erkenntnis, sondern wird notwendigerweise Affekt, Liebe«.[18] In dieser Perspektive wählte der heilige John Henry Newman den Satz „Cor ad cor loquitur“ zu seinem Leitspruch, denn jenseits aller Dialektik rettet uns der Herr, indem er aus seinem Heiligsten Herzen zu unserem Herzen spricht. Dieselbe Logik bedeutete für ihn, einen großen Denker, dass der Ort der tiefsten Begegnung mit sich selbst und mit dem Herrn nicht die Lektüre oder das Nachdenken war, sondern die Zwiesprache im Gebet, von Herz zu Herz, mit dem lebendigen und gegenwärtigen Christus. Deshalb fand Newman in der Eucharistie das lebendige Herz Jesu, das fähig ist, zu befreien, jedem Augenblick einen Sinn zu geben und den Menschen mit wahrem Frieden zu erfüllen: »O hochheiliges und gütigstes Herz Jesu, Du bist verborgen in der heiligen Eucharistie und schlägst noch immer für uns. […] Ich bete Dich an mit größter Liebe und Ehrfurcht, mit glühender Hingabe, mit demütigem und festem Willen. O mein Gott, wenn Du mich würdigst, Dich als Speise und Trank zu empfangen, und Du für eine Weile in mir Wohnung nimmst, dann gib, dass mein Herz mit dem Deinen schlägt! Reinige es von allem Irdischen, von allem Stolz und aller Sinnlichkeit, von aller Härte und Erbarmungslosigkeit, von aller Verkehrtheit, Unordnung und Gleichgültigkeit! Erfülle es so mit Dir, dass weder die Ereignisse des Tages noch die Umstände der Zeit die Macht haben, es zu beunruhigen, und dass es in Deiner Liebe und in Deiner Furcht den Frieden habe«.[19]
27. Vor dem Herzen des lebendigen und gegenwärtigen Jesus begreift unser Verstand, vom Heiligen Geist erleuchtet, die Worte Jesu. Und so setzt sich unser Wille in Bewegung, um sie umzusetzen. Aber das könnte eine Form von selbstgenügsamem Moralismus bleiben. Den Herrn zu hören, zu verkosten und zu ehren, ist eine Sache des Herzens. Nur das Herz ist in der Lage, die anderen Fähigkeiten und Leidenschaften und unsere ganze Person in eine Haltung der Ehrfurcht und des liebenden Gehorsams dem Herrn gegenüber zu bringen.
Vom Herzen her kann sich die Welt verändern
28. Nur vom Herzen her werden unsere Gemeinschaften in der Lage sein, die verschiedenen Einsichten und Willen zu vereinen und zu befrieden, auf dass der Geist uns als ein Netz von Brüdern und Schwestern leiten kann, denn auch die Befriedung ist eine Aufgabe des Herzens. Das Herz Christi ist Ekstase, ist Hinausgehen, Geschenk und Begegnung. In ihm werden wir fähig, auf gesunde und glückliche Weise miteinander in Beziehung zu treten und in dieser Welt das Reich der Liebe und der Gerechtigkeit aufzubauen. Wenn unser Herz mit dem Herzen Christi vereint ist, ist es zu diesem sozialen Wunder fähig.
29. Das Herz ernst zu nehmen, hat soziale Konsequenzen. Wie das Zweite Vatikanische Konzil lehrt, müssen wir alle »uns wandeln in unserer Gesinnung und müssen die ganze Welt und jene Aufgaben in den Blick bekommen, die wir alle zusammen zum Fortschritt der Menschheit auf uns nehmen können«.[20] Denn »in Wahrheit hängen die Störungen des Gleichgewichts, an denen die moderne Welt leidet, mit jener tiefer liegenden Störung des Gleichgewichts zusammen, die im Herzen des Menschen ihren Ursprung hat«.[21] Angesichts der Dramen der Welt lädt das Konzil dazu ein, zum Herzen zurückzukehren, und erklärt, dass der Mensch in seiner Innerlichkeit die Gesamtheit der Dinge übersteigt. »In diese Tiefe geht er zurück, wenn er in sein Herz einkehrt, wo Gott ihn erwartet, der die Herzen durchforscht (vgl. 1 Sam 16,7; Jer 17,10), und wo er selbst unter den Augen Gottes über sein eigenes Geschick entscheidet«.[22]
30. Das bedeutet nicht, dass wir uns zu sehr auf uns selbst verlassen. Seien wir vorsichtig: Machen wir uns bewusst, dass unser Herz nicht eigenständig ist, es ist zerbrechlich und verwundet. Es hat eine ontologische Würde, muss aber zugleich nach einem würdigeren Leben streben.[23] Das Zweite Vatikanische Konzil sagt dazu: »Der Sauerteig des Evangeliums hat im Herzen des Menschen den unbezwingbaren Anspruch auf Würde erweckt und erweckt ihn auch weiter«,[24] doch um dieser Würde entsprechend zu leben, genügt es nicht, das Evangelium zu kennen oder mechanisch zu tun, was es uns aufträgt. Wir brauchen die Hilfe der göttlichen Liebe. Gehen wir zum Herzen Christi, dem Zentrum seines Seins, das ein Brennofen der göttlichen und menschlichen Liebe ist und die größte Fülle darstellt, die ein Mensch erlangen kann. Dort, in jenem Herzen, erkennen wir endlich uns selbst und lernen wir zu lieben.
31. Schließlich ist dieses Heiligste Herz das einigende Prinzip der Wirklichkeit, denn »Christus ist das Herz der Welt; sein Pascha des Todes und der Auferstehung ist die Mitte der Geschichte, die dank Ihm Heilsgeschichte ist«.[25] Alle Geschöpfe »gehen mit uns und durch uns voran auf das gemeinsame Ziel zu, das Gott ist, in einer transzendenten Fülle, wo der auferstandene Christus alles umgreift und erleuchtet«.[26] Vor dem Herzen Christi bitte ich den Herrn, noch einmal Erbarmen zu haben mit dieser verwundeten Erde, die er als einer von uns bewohnen wollte. Möge er die Schätze seines Lichts und seiner Liebe ausschütten, damit unsere Welt, die inmitten von Kriegen, sozioökonomischen Ungleichgewichten, Konsumismus und dem menschenfeindlichen Einsatz von Technoligie überlebt, das Wichtigste und Nötigste wiederfindet: das Herz.
II. GESTEN UND WORTE DER LIEBE
32. Das Herz Christi, das seine persönliche Mitte versinnbildlicht, aus dem seine Liebe zu uns hervorströmt, ist der lebendige Kern der ersten Verkündigung. Dort befindet sich der Ursprung unseres Glaubens, die Quelle, die die christlichen Überzeugungen lebendig hält.
Gesten, die das Herz widerspiegeln
33. Die Art und Weise, in der Christus uns liebt, wollte er uns nicht allzu sehr erklären. Er hat sie durch seine Taten gezeigt. Indem wir ihn bei seinem Handeln beobachten, können wir entdecken, wie er einen jeden von uns behandelt, auch wenn es uns schwerfällt, das wahrzunehmen. Sehen wir also dort nach, wo unser Glaube es erkennen kann: im Evangelium.
34. Das Evangelium sagt, dass Jesus »in sein Eigentum« kam (Joh 1,11). Sein Eigentum sind wir, weil er uns nicht als etwas Fremdes behandelt. Er sieht uns als das Seine an, das er mit Sorgfalt, mit Zuneigung hütet. Er behandelt uns als die Seinen. Nicht in dem Sinne, dass wir seine Sklaven sind, das verneint er selbst: »Ich nenne euch nicht mehr Knechte« (Joh 15,15). Das, was er anbietet, ist gegenseitige freundschaftliche Zugehörigkeit. Er ist gekommen, er hat alle Entfernung überwunden, er ist uns so nahe gekommen wie die einfachsten und alltäglichsten Dinge des Lebens. Er hat nämlich noch einen anderen Namen, der „Immanuel“ lautet und „Gott mit uns“ bedeutet, Gott, der unserem Leben nahe ist und mitten unter uns lebt. Der Sohn Gottes ist Fleisch geworden und »entäußerte sich und wurde wie ein Sklave« (Phil 2,7).
35. Das ist offensichtlich, wenn wir ihn handeln sehen. Er ist immer auf der Suche, nah, jederzeit offen für die Begegnung. Wir betrachten ihn, wenn er anhält, um sich mit der samaritanischen Frau am Brunnen zu unterhalten, wo sie hinging, um Wasser zu holen (vgl. Joh 4,5-7). Wir sehen ihn, wie er tief in der Nacht Nikodemus begegnet, der Angst hatte, zusammen mit Jesus gesehen zu werden (vgl. Joh 3,1-2). Wir bewundern ihn, als er sich nicht schämt, sich von einer Prostituierten die Füße waschen zu lassen (vgl. Lk 7,36-50); als er Auge in Auge zu der Ehebrecherin sagt: »Ich verurteile dich nicht« (Joh 8,11); oder als er der Gleichgültigkeit seiner Jünger entgegentritt und dem Blinden auf der Straße liebevoll sagt: »Was willst du, dass ich dir tue?« (Mk 10,51). Christus zeigt, dass Gott Nähe, Mitgefühl und Zärtlichkeit ist.
36. Wenn er jemanden heilte, zog er es vor, sich zu nähern: Er »streckte die Hand aus, berührte ihn« (Mt 8,3), »berührte […] ihre Hand« (Mt 8,15), »berührte […] ihre Augen« (Mt 9,29). Und er heilte Kranke sogar mit seinem Speichel (vgl. Mk 7,33), wie eine Mutter, damit sie ihn nicht für einen Fremden in ihrem Leben hielten. Denn »der Herr beherrscht die schöne Wissenschaft der Liebkosung. Die Zärtlichkeit Gottes liebt uns nicht mit Worten; er kommt zu uns, und indem er uns nahe ist, schenkt er uns seine Liebe mit der ganzen möglichen Zärtlichkeit«.[27]
37. Da es uns schwer fällt, zu vertrauen, weil wir durch so viel Verlogenheit, Aggression und Enttäuschung verwundet worden sind, flüstert er uns ins Ohr: »Hab Vertrauen, mein Sohn« (Mt 9,2), »Hab keine Angst, meine Tochter« (Mt 9,22). Es geht darum, die Angst zu überwinden und uns bewusst zu werden, dass wir mit ihm nichts zu verlieren haben. Zu Petrus, der kein Vertrauen hatte, streckte »Jesus […] sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?« (Mt 14,31). Fürchte dich nicht. Lass ihn nah zu dir kommen, lass ihn neben dir sitzen. Wir können an vielen Menschen zweifeln, aber nicht an ihm. Und bleib nicht wegen deiner Sünden stehen. Denk daran, viele Sünder »aßen zusammen mit ihm« (Mt 9,10) und Jesus nahm an keinem von ihnen Anstoß. Die Eliten der Glaubensgemeinschaft beschwerten sich und behandelten ihn wie »ein[en] Fresser und Säufer, ein[en] Freund der Zöllner und Sünder« (Mt 11,19). Als die Pharisäer seine Nähe zu den Menschen kritisierten, die als niedrig oder sündig galten, sagte Jesus zu ihnen: »Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer« (Mt 9,13).
38. Derselbe Jesus wartet heute darauf, dass du ihm die Gelegenheit gibst, dein Leben zu erhellen, dich aufzurichten, dich mit seiner Kraft zu erfüllen. Bevor er starb, sagte er nämlich zu seinen Jüngern: »Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, ich komme zu euch. Nur noch kurze Zeit und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich« (Joh 14,18-19). Er findet immer einen Weg, sich in deinem Leben zu zeigen, damit du ihm begegnen kannst.
Der Blick
39. Das Evangelium berichtet, dass ein reicher Mann zu ihm kam, der voller Ideale war, aber nicht die Kraft hatte, sein Leben zu ändern. »Da sah ihn Jesus an« (Mk 10,21). Kannst du dir diesen Augenblick vorstellen, diese Begegnung zwischen den Augen jenes Mannes und dem Blick Jesu? Wenn er dich ruft, wenn er dich zu einer Mission einlädt, dann sieht er dich zuerst an, er erforscht das Innerste deines Seins, er nimmt alles wahr und weiß, was in dir ist, er legt seinen Blick auf dich: »Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er zwei Brüder [...]. Als er weiterging, sah er zwei andere Brüder« (Mt 4,18.21).
40. Viele Evangelientexte zeigen uns Jesus, der seine ganze Aufmerksamkeit den Menschen, ihren Sorgen, ihren Leiden widmet. Zum Beispiel: »Als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren müde und erschöpft« (Mt 9,36). Wenn wir den Eindruck haben, dass uns alle ignorieren, dass sich niemand dafür interessiert, was uns geschieht, dass wir für niemanden wichtig sind, dann achtet er auf uns. Genau das zeigte er dem allein und versonnen dastehenden Natanaël: »Schon bevor dich Philippus rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen« (Joh 1,48).
41. Gerade weil er auf uns achtet, ist er in der Lage, jede gute Absicht zu erkennen, jede kleine gute Tat, die du vollbringst. Das Evangelium erzählt: »Er sah aber auch eine arme Witwe, die [in den Opferkasten] zwei kleine Münzen hineinwarf« (Lk 21,2). Sofort machte er seine Apostel darauf aufmerksam. Jesus ist so aufmerksam, dass er das Gute, das er in uns erkennt, bewundert. Als der Hauptmann sich voll Vertrauen an ihn wandte, war Jesus »erstaunt, als er das hörte« (Mt 8,10). Wie schön ist es zu wissen, dass Jesus die guten Absichten und die guten Dinge, die wir tun können, nicht entgehen und er sie sogar bewundert, auch wenn andere sie ignorieren.
42. Als Mensch hatte er dies von Maria, seiner Mutter, gelernt. Sie betrachtete alles mit Sorgfalt, »bewahrte [es] in ihrem Herzen« (Lk 2,51) und lehrte ihn gemeinsam mit dem heiligen Josef von klein auf, aufmerksam zu sein.
Die Worte
43. Obwohl wir in der Heiligen Schrift sein Wort haben, das immer lebendig und aktuell ist, spricht uns Jesus manchmal innerlich an und ruft uns, um uns an den besten Ort zu bringen. Und der beste Ort ist sein Herz. Er ruft uns, um uns dort eintreten zu lassen, wo wir wieder Kraft und Frieden finden können: »Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken« (Mt 11,28). Deshalb hat er seine Jünger aufgefordert: »Bleibt in mir« (Joh 15,4).
44. Die Worte, die Jesus sprach, zeigten, dass seine Heiligkeit die Gefühle nicht auslöschte. Bei einigen Gelegenheiten zeigten sie eine leidenschaftliche Liebe, die mit uns leidet, gerührt ist, klagt und sogar weint. Es ist offensichtlich, dass ihm die gewöhnlichen Sorgen und Ängste der Menschen, wie Müdigkeit oder Hunger, nicht gleichgültig waren: »Ich habe Mitleid mit diesen Menschen; sie […] haben nichts mehr zu essen. […] Sie [werden] auf dem Weg zusammenbrechen; denn einige von ihnen sind von weit her gekommen« (Mk 8,2-3).
45. Das Evangelium verbirgt nicht die Gefühle Jesu gegenüber Jerusalem, der geliebten Stadt: »Als er näher kam und die Stadt sah, weinte er über sie« (Lk 19,41) und äußerte seinen größten Wunsch: »Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was Frieden bringt« (19,42). Auch wenn die Evangelisten ihn manchmal in seiner Kraft und Herrlichkeit darstellen, unterlassen sie es nicht, seine Gefühle im Angesicht des Todes und des Schmerzes seiner Freunde zu zeigen. Bevor das Evangelium erzählt, dass Jesus am Grab des Lazarus weinte (vgl. Joh 11,35) , hält es sich damit auf, zu berichten, dass Jesus Marta, ihre Schwester und Lazarus liebte (vgl. Joh 11,5) und dass er, als er Maria und ihre Begleiter weinen sah, »im Innersten erregt und erschüttert« war (Joh 11,33). Die Erzählung lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um ein ehrliches Weinen handelte, das von einer inneren Erregung ausgelöst wurde. Schließlich wird auch die Angst Jesu vor seinem eigenen gewaltsamen Tod durch die Hand derer, die er so sehr liebte, nicht verschwiegen: »Da ergriff ihn Furcht und Angst« (Mk 14,33) und schließlich sagt er sogar: »meine Seele ist zu Tode betrübt« (Mk 14,34). Diese innere Erschütterung kommt mit ihrer ganzen Kraft in dem lauten Ruf des Gekreuzigten zum Ausdruck: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34).
46. All dies mag bei oberflächlicher Betrachtung als religiöser Romantizismus erscheinen. Es geht jedoch um etwas äußerst Ernstes und Entscheidendes, das seinen höchsten Ausdruck in dem an ein Kreuz genagelten Christus findet. Dies ist das vielsagendste Wort der Liebe. Es ist keine leere Hülle, es ist kein reines Gefühl, es ist keine spirituelle Flucht. Es ist Liebe. Deshalb sagte der heilige Paulus, als er nach den richtigen Worten suchte, um seine Beziehung zu Christus zu erklären: Er hat »mich geliebt und sich für mich hingegeben« (Gal 2,20). Dies war seine tiefste Überzeugung: das Wissen, geliebt zu sein. Die Hingabe Christi am Kreuz erniedrigte ihn, aber sie hatte doch einen Sinn, weil es etwas gab, das noch größer war als diese Hingabe: „Er hat mich geliebt“. Als viele Menschen in verschiedenen religiösen Angeboten Heil, Wohlergehen oder Sicherheit suchten, vermochte Paulus, vom Geist berührt, darüber hinauszusehen und über das Wichtigste und Grundlegendste zu staunen: „Er hat mich geliebt“.
47. Nachdem wir Christus betrachtet und auf das geschaut haben, was seine Gesten und Worte von seinem Herzen erkennen lassen, rufen wir uns nun in Erinnerung, wie die Kirche über das heilige Geheimnis des Herzens Jesu bedenkt.
III. DIES IST DAS HERZ, DAS SO SEHR GELIEBT HAT
48. Die Verehrung des Herzens Christi ist nicht ein von der Person Jesu losgelöster Kult um ein Organ. Das, was wir betrachten und anbeten, ist der ganze Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, dargestellt in einem Bild, das sein Herz besonders betont. In diesem Fall wird das fleischliche Herz als Bild oder bevorzugtes Zeichen der innersten Mitte des menschgewordenen Sohnes und seiner sowohl göttlichen als auch menschlichen Liebe betrachtet, weil es mehr als jedes andere Organ seines Leibes »ein natürliches Zeichen oder Sinnbild seiner unermesslichen Liebe« ist.[28]
Die Anbetung Christi
49. Es ist wichtig zu betonen, dass wir mit der Person Christi in Freundschaft und Anbetung in Beziehung treten, angezogen von der Liebe, die im Bild seines Herzens dargestellt ist. Wir verehren zwar das Bild, das ihn darstellt, aber die Anbetung gilt ausschließlich dem lebendigen Christus, in seiner Gottheit und in seiner ganzen Menschheit, um uns von seiner menschlichen und göttlichen Liebe umarmen zu lassen.
50. Jenseits der Frage des verwendeten Bildes steht fest, dass die Anbetung dem lebendigen Herz Christi – und niemals einem Bild – gilt, denn es ist Teil seines heiligsten und auferstandenen Leibes, der nicht vom Sohn Gottes getrennt werden kann, der ihn für immer angenommen hat. Es wird als das »Herz der Person des Wortes, mit dem es untrennbar geeint ist«[29] verehrt. Wir beten es nicht für sich allein an, sondern insofern, als mit diesem Herzen der fleischgewordene Sohn selbst lebt, liebt und unsere Liebe empfängt. Strenggenommen wird daher jeder Akt der Liebe oder der Anbetung seinem Herzen gegenüber »wahrhaft und eigentlich Christus selbst dargebracht«,[30] denn diese Darstellung verweist unmittelbar auf ihn und ist »Symbol und Ebenbild der unendlichen Liebe Jesu Christi«.[31]
51. Deshalb sollte niemand denken, dass uns diese Andachtsform von Jesus Christus und seiner Liebe trennen oder ablenken kann. Sie führt uns unmittelbar und direkt zu ihm und zu ihm allein, der uns zu einer kostbaren Freundschaft einlädt, die aus Dialog, Zuneigung, Vertrauen und Anbetung besteht. Dieser Christus mit dem durchbohrten und brennenden Herzen ist derselbe, der in Betlehem aus Liebe geboren wurde; er ist derjenige, der durch Galiläa zog und Heil, Zärtlichkeit und Barmherzigkeit verbreitete; er ist derjenige, der uns bis zur Vollendung liebte, indem er am Kreuz seine Arme ausbreitete. Schlussendlich ist er derselbe, der auferstanden ist und in Herrlichkeit unter uns lebt.
Die Verehrung seines Bildnisses
52. Es ist zu beachten, dass das Bild von Christus mit seinem Herzen, obschon es in keiner Weise Gegenstand der Anbetung ist, dennoch nicht eines von vielen Bildern ist, die zur Wahl stünden. Es ist nicht etwas, das am Schreibtisch erfunden oder von einem Künstler gezeichnet wurde, »es ist kein erdachtes Symbol, es ist ein wirkliches Symbol, das den Mittelpunkt darstellt, die Quelle, der das Heil für die ganze Menschheit entsprungen ist«.[32]
53. Es gibt eine weltweite menschliche Erfahrung, die dieses Bild einzigartig macht. Es besteht nämlich kein Zweifel daran, dass das Herz im Laufe der Geschichte und in verschiedenen Teilen der Welt zu einem Symbol der innigsten Vertrautheit und auch der Zuneigung, der Gefühle und der Fähigkeit zu lieben geworden ist. Jenseits jeder wissenschaftlichen Erklärung drückt eine Hand, die auf das Herz eines Freundes gelegt wird, eine besondere Zuneigung aus; wenn man sich verliebt und dem geliebten Menschen nahe ist, beschleunigt sich der Herzschlag; wenn man von einem geliebten Menschen verlassen oder betrogen wird, spürt man soetwas wie eine starke Beklemmung im Herzen. Und um auszudrücken, dass etwas aufrichtig ist, dass es wirklich aus dem Innersten der Person kommt, sagt man: „Ich sage dir das von Herzen“. Die poetische Sprache kann die Kraft dieser Erfahrungen nicht übergehen. Es ist daher unvermeidlich, dass das Herz im Laufe der Geschichte eine einzigartige symbolische Kraft erlangt hat, die nicht bloß konventionell ist.
54. Es ist daher verständlich, dass die Kirche das Bild des Herzens gewählt hat, um die menschliche und göttliche Liebe Jesu Christi und den innersten Wesenskern seiner Person darzustellen. Doch auch wenn die Zeichnung eines Herzens mit Feuerflammen ein vielsagendes Symbol sein kann, das uns an die Liebe Jesu erinnert, ist es angemessen, dass dieses Herz Teil eines Bildnisses von Jesus Christus ist. Auf diese Weise wird seine Einladung zu einer persönlichen Beziehung der Begegnung und des Dialogs noch bedeutsamer.[33] Jenes Bildnis Christi, das verehrt wird und auf dem sein liebendes Herz hervorgehoben ist, zeigt zugleich einen Blick, der zur Begegnung, zum Dialog und zum Vertrauen einlädt; es zeigt starke Hände, die fähig sind, uns zu stützen; es zeigt einen Mund, der uns auf einzigartige und ganz persönliche Weise anspricht.
55. Das Herz hat den Vorzug, dass es nicht als ein separates Organ wahrgenommen wird, sondern als innere, einende Mitte und gleichzeitig als Ausdruck der Gesamtheit des Menschen, was bei anderen Organen des menschlichen Körpers nicht der Fall ist. Wenn es die innerste Mitte der Gesamtheit des Menschen ist, also ein Teil, der für das Ganze steht, können wir es leicht entstellen, wenn wir es getrennt von der Gestalt des Herrn betrachten. Das Bild des Herzens muss uns in Beziehung zu dem ganzen Jesus Christus setzen, und muss uns zugleich von dieser einenden Mitte aus dazu bringen, Christus in der ganzen Schönheit und dem ganzen Reichtum seiner Menschheit und Gottheit zu betrachten.
56. Dies ist etwas, dass über die Attraktivität der unterschiedlichen Bilder des Herzens Christi hinausgeht, weil man von den Abbildungen Christi nicht »irgendetwas erbitten [kann], oder weil man Vertrauen in Bilder setzen könnte, wie es einst von Heiden getan wurde, die ihre Hoffnung auf Götzenbilder setzten«, sondern es ist so, dass wir »durch die Bilder, die wir küssen und vor denen wir das Haupt entblößen und niederfallen, Christus anbeten«.[34]
57. Außerdem erscheinen uns einige dieser Bilder vielleicht weniger attraktiv und bewegen uns nicht sonderlich zu Liebe und Gebet. Dies ist zweitrangig, da das Bild nur eine anregende Darstellung ist und man, wie die Orientalen sagen würden, nicht auf den Finger starren sollte, der auf den Mond deutet. Während die Eucharistie eine anzubetende Realpräsenz ist, handelt es sich in diesem Fall bloß um ein Bild, das zwar gesegnet ist, uns aber dazu einlädt, darüber hinauszugehen, und uns darauf ausrichtet, unser eigenes Herz zu jenem des lebendigen Christus zu erheben und es mit ihm zu vereinen. Das Bild, das verehrt wird, lädt ein, weist hin, regt an, damit wir der Begegnung mit Christus und seiner Anbetung Zeit widmen, so wie wir ihn uns am besten vorstellen. Auf diese Weise stellen wir uns beim Betrachten des Bildes vor Christus und »die Liebe« hält ihm gegenüber »inne, betrachtet das Mysterium und erfreut sich in der Stille daran«.[35]
58. Nach all dem dürfen wir nicht vergessen, dass das Bild des Herzens zu uns von menschlichem Fleisch, von der Erde spricht und damit auch von Gott, der in unsere geschichtliche Verfasstheit eintreten, selbst Teil der Geschichte werden und unseren irdischen Weg mit uns gehen wollte. Eine abstraktere oder stilisiertere Form der Verehrung wird nicht unbedingt treuer zum Evangelium sein, denn in diesem sinnenhaften und leicht zugänglichen Zeichen offenbart sich die Art und Weise, in der Gott sich offenbaren und uns nahe kommen wollte.
Spürbare Liebe
59. Liebe und Herz sind nicht notwendigerweise eins, denn in einem menschlichen Herzen können Hass, Gleichgültigkeit und Egoismus herrschen. Aber wir erreichen nicht unser volles Menschsein, wenn wir nicht aus uns heraustreten, und wir werden nicht ganz wir selbst, wenn wir nicht lieben. Die innere Mitte unserer Person, die für die Liebe geschaffen wurde, verwirklicht den Plan Gottes also nur, wenn sie liebt. So steht das Symbol des Herzens gleichzeitig auch für die Liebe.
60. Der ewige Sohn Gottes, der mich grenzenlos übersteigt, wollte mich auch mit einem menschlichen Herzen lieben. Seine menschlichen Gefühle werden Sakrament einer unendlichen und endgültigen Liebe. Sein Herz ist also nicht ein physisches Symbol, das nur eine geistige oder von der Materie getrennte Wirklichkeit ausdrückt. Der auf das Herz des Herrn gerichtete Blick betrachtet eine physische Realität, sein menschliches Fleisch, welches ermöglicht, dass Christus menschliche Emotionen und Gefühle hat wie wir, wenn auch völlig verwandelt von seiner göttlichen Liebe. Die Verehrung muss sich auf die unendliche Liebe der Person des Gottessohnes erstrecken, aber wir müssen sagen, dass sie untrennbar mit seiner menschlichen Liebe verbunden ist, und das Bild seines Herzens aus Fleisch hilft uns, dies zu tun.
61. Wenn auch heute noch das Herz im Volksempfinden als die affektive Mitte eines jeden Menschen wahrgenommen wird, so ist es das, was am besten die göttliche Liebe Christi bezeichnen kann, die für immer und untrennbar mit seiner ganz und gar menschlichen Liebe vereint ist. Schon Pius XII. erinnerte daran, dass das Wort Gottes, wenn es »die Liebe des Herzens Jesu Christi« beschreibt, »nicht eine nur göttliche Liebe, sondern auch menschliche Empfindungen der Liebe bezeichnet [...]. Daher hat das Herz Jesu Christi, mit der göttlichen Person des Wortes hypostatisch vereint, zweifellos auch wegen der Liebe und der übrigen Gemütsbewegungen geschlagen«.[36]
62. Bei den Kirchenvätern finden wir, in Anbetracht einiger, die die wahre Menschheit Christi leugneten oder relativierten, eine starke Bekräftigung der konkreten und greifbaren Wirklichkeit der menschlichen Gefühle, die der Herr empfand. So betont der heilige Basilius, dass die Inkarnation des Herrn nichts frei erdachtes ist, sondern dass »der Herr die natürlichen Affekte annahm«.[37] Der heilige Johannes Chrysostomus nennt ein Beispiel: »Wenn er nämlich nicht unsere Natur gehabt hätte, wäre er nicht wieder und wieder von Trauer erfaßt worden«.[38] Der heilige Ambrosius sagt: »Weil er die Seele übernahm, hat er auch die Empfindungen der Seele auf sich genommen«.[39] Und der heilige Augustinus stellt die menschlichen Leidenschaften als eine Gegebenheit dar, die, nachdem Christus sie auf sich genommen hat, dem Leben der Gnade nicht mehr fremd ist: »Diese Regungen der menschlichen Schwachheit, wie auch das Fleisch der menschlichen Schwachheit und den Tod des menschlichen Fleisches hat Jesus, der Herr, auf sich genommen nicht aus der Not seiner Lage, sondern aus dem Willen seiner Erbarmung, um in sich zu verwandeln seinen Leib, der die Kirche ist und für den das Haupt zu sein er sich würdigte, das heißt, seine Glieder in seinen Heiligen und Gläubigen; damit, wenn einer von ihnen inmitten menschlicher Versuchungen betrübt wäre und litte, er nicht deshalb seiner Gnade fern zu sein glauben sollte«.[40] Schließlich ist der heilige Johannes von Damaskus der Auffassung, dass diese reale Erfahrung der Gemütsregungen Christi in seiner Menschheit der Beweis dafür ist, dass er unsere Natur ganz und nicht nur teilweise angenommen hat, um sie zu erlösen und als Ganze zu verwandeln. Christus hat also alle Elemente, die die menschliche Natur ausmachen, angenommen, damit sie alle geheiligt werden.[41]
63. Es lohnt sich, an dieser Stelle die Überlegungen eines Theologen aufzugreifen, der einräumt, dass »die Theologie unter dem Einfluss des griechischen Denkens den Körper und die Gefühle lange Zeit in die Welt des Vormenschlichen, Untermenschlichen oder der Versuchung des wahrhaft Menschlichen verbannt hat, doch was die Theologie nicht in der Theorie gelöst hat, das hat die Spiritualität in der Praxis gelöst. Sie und die Volksfrömmigkeit haben die Beziehung zu den somatischen, psychologischen und historischen Aspekten Jesu lebendig gehalten. Der Kreuzweg, die Verehrung seiner Wunden, die Spiritualität des kostbaren Blutes, die Verehrung des Herzens Jesu, die eucharistischen Frömmigkeitsformen [...] All dies hat die Lücken in der Theologie gefüllt, indem es die Vorstellungskraft und das Herz, die Liebe und die zärtliche Zuneigung zu Christus, die Hoffnung und die Erinnerung, die Sehnsucht und die Nostalgie genährt hat. Die Vernunft und die Logik haben andere Wege eingeschlagen«.[42]
Dreifache Liebe
64. Wir bleiben auch nicht nur bei seinen menschlichen Empfindungen stehen, so schön und bewegend sie auch sein mögen, denn bei der Betrachtung des Herzens Christi erkennen wir, wie sich in seinen edlen und heilsamen Empfindungen, in seiner Zärtlichkeit, in der Lebendigkeit seiner menschlichen Zuneigung die ganze Wahrheit seiner göttlichen und unendlichen Liebe offenbart. Benedikt XVI. hat es so ausgedrückt: »Aus dem unendlichen Horizont seiner Liebe heraus wollte Gott in die Grenzen der Geschichte und des Menschseins eintreten, er nahm Leib und Herz an; so dass wir das Unendliche im Endlichen betrachten und ihm begegnen können, dem unsichtbaren und unaussprechlichen Geheimnis des menschlichen Herzens Jesu, des Nazareners«.[43]
65. In der Tat gibt es eine dreifache Liebe, die im Bild des Herzens des Herrn enthalten ist und uns verblüfft. Zunächst einmal die unendliche göttliche Liebe, die wir in Christus finden. Aber denken wir auch an die geistliche Dimension der Menschheit des Herrn. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Herz »Sinnbild […] jener brennenden Liebe, die, in seine Seele eingegossen, den menschlichen Willen Christi bereichert«. Schließlich ist es »Sinnbild der sinnenfälligen Regung«.[44]
66. Bei dieser dreifachen Liebe handelt es sich nicht um getrennte Fähigkeiten, die parallel oder unabhängig voneinander funktionieren, sondern sie handeln und drücken sich gemeinsam und in einem beständigen Lebensfluss aus: »Aus dem Glauben an die Vereinigung der menschlichen und göttlichen Natur in der Person Christi können wir die engen Beziehungen erfassen, die zwischen der sinnlichen Liebe des leiblichen Herzens Jesu und seiner doppelten geistigen Liebe, der menschlichen und göttlichen, bestehen«.[45]
67. Wenn wir also in das Herz Christi eintreten, fühlen wir uns von einem menschlichen Herzen geliebt, das voll von Zuneigung und Gefühlen ist wie das unsere. Sein menschlicher Wille liebt uns aus freien Stücken, und dieser geistige Wille ist von der Gnade und der Liebe voll erleuchtet. Wenn wir das Innerste dieses Herzens erreichen, werden wir von der unermesslichen Herrlichkeit der unendlichen Liebe des ewigen Sohnes überströmt, die wir nicht mehr von seiner menschlichen Liebe trennen können. Gerade in seiner menschlichen Liebe, und nicht indem wir uns von ihr distanzieren, finden wir seine göttliche Liebe: wir finden das »Unendliche im Endlichen«.[46]
68. Es ist beständige und definitive Lehre der Kirche, dass unsere Anbetung seiner Person eine einzige ist und untrennbar sowohl seine göttliche als auch seine menschliche Natur einschließt. Von alters her hat die Kirche gelehrt, dass wir »ein und denselben Christus, den Gottes- und Menschensohn, aus zwei untrennbaren und ungeteilten Naturen«[47] anbeten müssen. Und dies »mit einer Anbetung, weil das Wort Fleisch geworden ist«.[48] Christus wird keineswegs »in zwei Naturen angebetet, woraus zwei Anbetungen folgen«, sondern man betet »mit einer Anbetung den fleischgewordenen Gott, das Wort, mitsamt seinem ihm eigenen Fleisch«[49] an.
69. Der heilige Johannes vom Kreuz wollte zum Ausdruck bringen, dass in der mystischen Erfahrung die unermessliche Liebe des auferstandenen Christus nicht als etwas unserem Leben Fremdes wahrgenommen wird. Der Unendliche steigt gewissermaßen herab, damit wir durch das offene Herz Christi eine wahrhaft gegenseitige Liebesbegegnung erfahren können: »Und so ist es glaubwürdig, dass der tieffliegende Vogel den königlichen, ganz erhabenen Adler fängt, wenn dieser herunterkommt, weil er gefangen werden möchte«.[50] Und er erklärt: »Denn wenn er die Braut sieht, verwundet aus Liebe zu ihm, kommt auch er auf ihr Seufzen herbei, verwundet aus Liebe zu ihr. Denn bei Verliebten ist die Verwundung des einen die von beiden, und beide erleben das gleiche Gefühl«.[51] Dieser Mystiker versteht das Bild der verwundeten Seite Christi als Aufruf, sich mit dem Herrn gänzlich zu vereinen. Er ist der verletzte Hirsch, der verwundet ist, wenn wir uns noch nicht von seiner Liebe haben berühren lassen, der zu den Wasserbächen hinabsteigt, um unseren Durst zu stillen, und der jedes Mal Trost findet, wenn wir uns an ihn wenden:
»Kehr zurück, Taube,
denn der verwundete Hirsch
lässt sich auf dem Hügel blicken
beim Windhauch deines Fluges und schöpft frische Luft«.[52]
Trinitarische Perspektiven
70. Die Verehrung des Herzens Jesu ist zutiefst christologisch; sie ist eine direkte Betrachtung Christi, die zur Vereinigung mit ihm einlädt. Das ist berechtigt, wenn wir uns vor Augen halten, worum uns der Hebräerbrief bittet: unseren Lauf zu vollenden, indem wir »auf Jesus blicken« (12,2). Wir dürfen jedoch nicht übersehen, dass Jesus sich gleichzeitig als der Weg zum Vater darstellt: »Ich bin der Weg [...]. Niemand kommt zum Vater außer durch mich« (Joh 14,6). Er will uns zum Vater führen. Deshalb lässt uns die Verkündigung der Kirche, von Anfang an, nicht bei Jesus Christus stehenbleiben, sondern sie führt uns zum Vater. Er ist es, der als die ursprüngliche Fülle am Ende verherrlicht werden muss.[53]
71. Betrachten wir zum Beispiel den Epheserbrief, wo wir deutlich und klar sehen können, wie unsere Anbetung an den Vater gerichtet ist: »Daher beuge ich meine Knie vor dem Vater« (Eph 3,14). »Ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist« (Eph 4,6). »Sagt Gott, dem Vater, jederzeit Dank für alles« (Eph 5,20). Der Vater ist es, auf den wir hingeschaffen sind (vgl. 1 Kor 8,6). Aus diesem Grund hat der heilige Johannes Paul II. gesagt: »Das ganze christliche Leben ist wie eine große Pilgerschaft zum Haus des Vaters«.[54] Es ist das, was Ignatius von Antiochien auf dem Weg zum Martyrium erfahren hat: »Aber lebendes Wasser und redendes ist in mir, das im Innern zu mir spricht: Auf zum Vater!«.[55]
72. Er ist vor allem der Vater Jesu Christi: »Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus« (Eph 1,3). Er ist »Gott Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater der Herrlichkeit« (Eph 1,17). Als der Sohn Mensch wurde, waren alle Wünsche und Sehnsüchte seines menschlichen Herzens auf den Vater gerichtet. Wenn wir sehen, wie Christus sich auf den Vater bezog, können wir diese Faszination seines menschlichen Herzens, diese vollkommene und ständige Ausrichtung auf den Vater, erahnen.[56] Seine Geschichte auf dieser unserer Erde war ein Wandeln, bei dem er in seinem menschlichen Herzen den unaufhörlichen Ruf spürte, zum Vater zu gehen.[57]
73. Wir wissen, dass das aramäische Wort, mit dem er sich an den Vater wandte, „Abba“ hieß, was „Papa, Vati“ bedeutet. Zu seiner Zeit waren einige über diese Vertrautheit verärgert (vgl. Joh 5,18). Es ist der Ausdruck, den Jesus verwendet hatte, um mit dem Vater zu sprechen, als die Todesangst ihn überkam: »Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst« (Mk 14,36). Er erkannte sich immer als vom Vater geliebt: »Weil du mich schon geliebt hast vor Grundlegung der Welt« (Joh 17,24). Und Jesus war in seinem menschlichen Herzen verzückt, als er den Vater zu sich sagen hörte: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden« (Mk 1,11).
74. Das vierte Evangelium sagt, dass der ewige Sohn des Vaters seit jeher „auf das Herz des Vaters“ (Joh 1,18)[58] ausgerichtet war. Der heilige Irenäus sagt, dass »der Sohn Gottes […] immer bei dem Vater gewesen ist«.[59] Und Origenes erklärt, dass der Sohn »in unablässiger Betrachtung der Tiefe des Vaters verharrt«[60]. Deshalb verbrachte der Sohn, als er Mensch wurde, ganze Nächte im Gespräch mit dem geliebten Vater auf dem Gipfel des Berges (vgl. Lk 6,12). Er sagte: »Ich muss in dem sein, was meinem Vater gehört« (Lk 2,49). Schauen wir uns seine Lobpreisungen an: Jesus rief, »vom Heiligen Geist erfüllt, voll Freude aus: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde« (Lk 10,21). Und seine letzten Worte, die voller Zuversicht waren, lauteten: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist« (Lk 23,46).
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