Zwischen Auflösung und Versteinerung

22. Mai 2023 in Kommentar


Von der Notwendigkeit des II. Vatikanischen Konzils. Gastbeitrag von Martin Grichting/VaticanMagazin


Kißlegg (kath.net/VaticanMagazin) Der Dominikanertheologe Henri-Dominique Lacordaire (1802-1861) hat ‒ politisch vielleicht nicht ganz korrekt ‒ die Position der katholischen Kirche so beschrieben: „Während im Westen der Protestantismus wie eine Wolke schwebte, die der Willkür der Geister ausgesetzt war und der nicht vermochte, Dogmen, Disziplin und eine Hierarchie hervorzubringen, erlebte der Osten, im Sinne eines gegenläufigen Schauspiels, die Entwicklung zur Starrheit des Irrtums. Hier die Auflösung, dort die Versteinerung: Dazwischen steht die Wahrheit, die unveränderlich ist, ohne deshalb bewegungsunfähig zu sein, die fortschrittlich ist, ohne Veränderungen zu unterliegen.“

Gemäß Lacordaire geht die katholische Kirche also einen Mittelweg. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich den Herausforderungen stellt, die seit 2000 Jahren immer wieder entstehen. Denn die Gesellschaften, die politischen Systeme, die Wirtschaft sowie die Kultur entwickeln und verändern sich. Deshalb passt die Kirche ihre Sozialgestalt an, die Art und Weise ihres pastoralen Wirkens. Ihre konkrete Form der Sichtbarkeit geht mit der Zeit. Dadurch verändert sich die Substanz der Glaubenslehre jedoch nicht. Sie wird nicht wolkig, wie es Lacordaire ins Bild gebracht hat. Denn die Kirche geht nicht den Weg der Auflösung, wie ihn der Theologe Friedrich Schleiermacher (1768-1834) den evangelischen Christen gewiesen hat: die Bibel nur noch als „Mausoleum der Religion“ zu betrachten und Letztere inhaltlich zu reduzieren auf den „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“.

Die Abkoppelung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit hinein in eine rein mystisch-jenseitige Gottesverehrung ist demgegenüber die Versuchung der Orthodoxie. Denn sie betont das Sakrale und scheint dadurch in faszinierender Weise ‒ mit viel Gold, Kerzen und Weihrauch ‒ auf Erden die himmlische Liturgie vorwegzunehmen. Sie feiert jedoch eine Klerikerliturgie, die ohne Gläubige auszukommen scheint. Zudem herrscht eine weltabgewandte Theologie vor, was sich schmerzlich darin zeigt, dass die Kirche wenig gesellschaftsprägende Kraft entfaltet. Stets droht die Gefahr der Entfremdung zwischen einer in heiligen Sphären schwebenden Kirchenhierarchie und dem Volk, das ‒ in den irdischen Niedrigkeiten lebend ‒ im nicht theologisch und pastoral vermittelten Glaubensgeheimnis keine Weisung findet. Deshalb ist beispielsweise derzeit in Russland eine kritische christliche Gegenposition zum Wüten der staatlichen Gewalt kaum erkennbar. Solches meinte Lacordaire mit dem Begriff der „Versteinerung“.

Mit dem II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) hat die Kirche von neuem versucht, den von Lacordaire beschriebenen Mittelweg zu gehen, also dem treu zu bleiben, was immer gilt, es aber so zu sagen, dass es wieder voll pastoral wirksam wird. War das notwendig? Ja, das war es. Denn die Sozialgestalt der Kirche war Mitte des 20. Jahrhunderts noch stark vom Konzil von Trient geprägt. Diese Form von Kirchlichkeit hatte ihren Sinn und ihre Berechtigung gehabt, ging es doch im 16. Jahrhundert darum, der Infragestellung der Kirche durch die Reformation als sichtbare, von Jesus Christus begründete „Struktur“ zu begegnen. Die barocke und die Kirche als sichtbares Gefüge betonende Selbstdarstellung hat denn auch geistliche Früchte gebracht. Die Kirche überstand nicht nur die Krise der Reformation. Sie blühte wieder auf in ihren Heiligen, in einer volksverbundenen Frömmigkeit, in gesellschaftlicher Präsenz sowie Wirksamkeit und in Werken der christlichen Bildung und der Caritas.

Aber die Zeit lief weiter. Sie trat ein in das Zeitalter der Aufklärung, die nicht mehr so sehr eine Ära mächtiger Organisationen, sondern des Individuums war. Schon der Humanist Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) hatte das neue Zeitalter eingeläutet mit jenem berühmten Satz, den er Gott, an den Menschen adressiert, in den Mund legte: „Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.“ Gott wurde dann durch die Aufklärung in den Hintergrund gedrängt. Es blieb der Mensch als der „Bildhauer seiner selbst“ übrig, eine Vorstellung, die zeitgenössisch klingt. Der neuzeitliche Mensch nahm das Heft selbst in die Hand. Es entstanden die Gesellschaften der Freien und Gleichen, die Demokratien, in denen das Individuum zählt, sein Können und seine Leistung, nicht mehr so sehr die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht oder Organisation.

Angesichts solch veränderter Zeitumstände setzte das II. Vatikanische Konzil an mehreren Stellen an. Das Hauptaugenmerk des Konzils lag auf den Veränderungen in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht, die sich seit der Aufklärung vollzogen hatten. Kirchliches Leben hatte man seit Trient vor allem innerhalb der Kirche ‒ verstanden als sichtbare Organisation ‒ angesiedelt gesehen. Und die Kirche wurde verstanden als „vollkommene Gesellschaft“, auf Augenhöhe mit dem Staat. Es zählte primär die Struktur, die Organisation und damit der Klerus sowie die Orden. Die Kirche sei so sichtbar wie die Republik von Venedig, hatte der nachtridentinische Kirchenlehrer Robert Bellarmin (1542–1621) festgestellt. Vor Ort wurde dadurch die Pfarrei für die Gläubigen zum primären geistlichen Lebensraum und zur heilen Gegenwelt einer sich zusehends säkularisierenden gesellschaftlichen Wirklichkeit. Um die Pfarrei herum entstand eine Vielzahl von Vereinen, Kongregationen und Gruppen, die in ihrer Struktur sowie ihrem Wirken von der Hierarchie abhingen. Christliches Leben, so war man überzeugt, spielte sich in erster Linie dort ab. Vollkommenheit erreichte man als Kleriker oder Ordensmann bzw. Ordensfrau. Das alltägliche Leben der Laien in der Familie, im Beruf, in der politischen und zivilgesellschaftlichen Wirklichkeit wurde demgegenüber ‒ sieht man von Pionieren wie dem hl. Franz von Sales ab ‒ nicht als Orte erklärt und empfunden, wo man ebenfalls ganz und gar „Kirche“ sein konnte.

Das II. Vatikanische Konzil war vor allem anderen eine Antwort auf diese ‒ zeitbedingt verständliche ‒ verengte Sicht von Kirchlichkeit: Kirche ist nicht nur ihre Hierarchie. Und ihr Leben sowie Wirken hängt nicht nur an der Hierarchie. Vielmehr nahm das Konzil den neuzeitlichen Gedanken des Vorrangs des Individuums auf und versuchte, dem Christen eine Spiritualität zu vermitteln, die ihn in der Gesellschaft der Freien und Gleichen selbst zum handelnden Subjekt machen sollte. Dies war die ‒ richtige ‒ Antwort darauf, dass die Gesellschaft nun nicht mehr ständisch geordnet war, sich also nicht mehr aus verschiedenen Schichten, Klassen und Korporationen zusammensetzte. Vielmehr hatte nun das Individuum, das sich immer freier in der Zivilgesellschaft bewegen konnte, den Vorrang. Einer solchen Gesellschaft konnte man nicht mehr bloß von außen, als göttlich legitimierte Korporation, gegenübertreten und die Rechte Gottes einfordern. Vielmehr hat das Konzil den Laien den Weg gewiesen, wie sie als Einzelne und vereint in dieser neuen Form von Gesellschaft von innen her wirksam Christen und Kirche sein können. Hierin liegt auf der Ebene der pastoralen Wirksamkeit die konziliare Synthese mit den aus der Aufklärung hervorgegangenen Gesellschaften ‒ ohne seitens der Kirche deren Gottferne gutzuheißen oder nachahmen zu wollen.

Dieses Hauptanliegen des II. Vatikanischen Konzils ist ‒ man muss es leider sagen ‒ bis heute unverstanden. Und deshalb wird die erneuerte Form von Kirchlichkeit ‒ abgesehen von einigen „Bewegungen“ ‒ auch kaum gelebt. Sie bestünde für die Laien darin, ihr tägliches Wirken ‒ 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche ‒ bereits als kirchliche Sendung zu verstehen und bewusst zu leben. Das Konzil hat die Laien dazu ertüchtigt, auf der Basis des Getauft- und Gefirmtseins sowie geleitet von ihrem christlich geprägten Gewissen, dort Kirche zu sein, wo sie leben. Sie sollen von denen, die an Christi statt lehren, heiligen und leiten, durch die christliche Bildung und Verkündigung sowie durch die Spendung der Sakramente dazu ertüchtigt werden. Aber dann sollen die Laien, auch ohne in kirchenamtlichen Strukturen eingebunden zu sein oder in deren Namen zu handeln, Kirche sein, dort wo Gott sie hingestellt hat. Das IV. Kapitel von „Lumen Gentium“, von dem es derzeit scheint, als wäre es nie geschrieben worden, spricht ausführlich von dieser Mündigkeit der Laien.

Was ist stattdessen seit 1965 geschehen? Weil das Neue des II. Vatikanischen Konzils in der Breite der Kirche nicht verstanden wurde, blieb man beim Kirchenverständnis von Trient hängen und dachte in dessen Logik weiter. Aus der richtigen Einsicht, dass den Laien eine unersetzliche kirchliche Aufgabe zukommt, zog man den falschen Schluss, diese Sendung müssten sie nun vermehrt innerhalb der kirchlichen Organisation und unter der Leitung der Hierarchie wahrnehmen. Das nachkonziliare Synoden- und Rätewesen war die Folge. Und was derzeit unter Synodalität verhandelt wird auf teilkirchlicher sowie weltkirchlicher Ebene, mag gut gemeint sein. Es ist aber doch nur die Fortsetzung des tridentinischen Kirchenverständnisses mit anderen Mitteln. Es ist der anachronistische Versuch, ein vorkonziliares, hierarchiezentriertes Kirchenbild fortzuschreiben und auszuweiten, indem die Laien zu innerkirchlicher Beratschlagung und Beschlussfassung in den Raum der Kirche ‒ weiterhin verkürzend verstanden als ihre hierarchische Seite ‒ gerufen werden. Kirchliches Handeln soll somit auch zukünftig so verstanden werden, dass es zusammen mit und unter der Leitung der Hierarchie stattfindet. Das ist die bewusst oder unbewusst ausgesandte Botschaft des synodalen Aktivismus. Da die damit verbundene Klerikalisierung der Laien Konflikte mit denjenigen hervorruft, die das Sakrament der Weihe empfangen haben, versucht man, den vom II. Vatikanischen Konzil erneut bekräftigten wesenhaften Unterschied zwischen dem gemeinsamen Priestertum der Gläubigen und dem hierarchischen Priestertum (LG 10) einzuebnen: Laien sollen in gleicher Weise mit dem Klerus „mitbestimmen“ können. Und man meint, sie per Dekret mit Aufgaben betrauen zu können, deren Ausübung das Weihesakrament voraussetzen.

Man muss leider von Verblendung sprechen: Hierarchen und „Laienvertreter“, welche glauben, fortschrittlich zu sein, erkennen nicht, dass sie nach wie vor in einer vorkonziliaren Form von Kirchlichkeit gefangen sind. Ja, sie verschärfen die tridentinische Klerusfixierung, indem sie die Laien faktisch zu Klerikern machen wollen. Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusehen, dass diese auf verfehlten theologischen Voraussetzungen aufgebaute „Strategie“ selbstlimitierend ist. Sie erweist sich als kirchenamtliches Selbstbeschäftigungsprogramm, dessen Anziehungskraft auf die postchristliche Gesellschaft gegen Null tendiert.

Derweil ist die Wirksamkeit des Christentums für die Ausgestaltung des Staates und der Gesellschaft in vielen Ländern kaum noch erkennbar. Das Grounding ist vielerorten nahe. Dieser vor allem in Europa zu beobachtende Niedergang hat seine Gründe. Einmal ist die Sozialgestalt der Kirche, wie sie Trient begründet hatte, inzwischen beinahe ganz verfallen. Die „lebendige Pfarrei“ mit ihrer Corona von Vereinen und Gruppen, verstanden als katholische Sonderwelt und Ausdruck von korporativer Kirchlichkeit, ist Geschichte. Man darf den Konzilsvätern zugestehen, dass sie das haben kommen sehen. Und insofern muss man eben sagen: Das II. Vatikanische Konzil war wirklich notwendig. Zugleich ist das Neue des Konzils unverstanden. Deshalb kann es auch nicht Frucht tragen in einer erneuerten Gestalt von Kirchlichkeit. Im Gegenteil: Neuerdings fördern Teile der Hierarchie noch das nach „innen“ gerichtete Wirken von Laien. Da diese inzwischen immer weniger kirchlich sozialisiert und gebildet sind, überformt und zerstört ihr säkularisiertes Fühlen und Denken zusehends die Glaubenslehre. Statt dass die Laien die Welt mit christlichem Geist erfüllen, tragen sie den postchristlichen Humanismus, verbrämt als „Zeichen der Zeit“, in die Kirche hinein und wollen ihn dort umgesetzt sehen. Das ist nicht Ausdruck von christlichem Selbstbewusstsein gegenüber einer säkularen Gesellschaft, sondern der Erweis von Minderwertigkeitskomplexen desorientierter und von der Hierarchie theologisch sowie spirituell allein gelassener Laien. Es führt im Ergebnis zu dem, was Schleiermacher vorgeschlagen hatte: die Religion auf ein vermeintlich akzeptables Maß zu verdünnen, um so auf Akzeptanz seitens der postchristlichen Mehrheitsgesellschaft zu hoffen.

Weithin unverstanden ist auch die Reform der Liturgie, die das II. Vatikanische Konzil für notwendig erachtet hatte. Hier ist wichtig zu erwähnen: Die tridentinische Liturgie war nicht neu, sie wurde von Trient nur gereinigt und vereinheitlicht. Sie stammte im Kern aus der Antike, als die Menschen noch Latein sprachen und verstanden. Die Kenntnis dieser Sprache war im Kirchenvolk schon im Mittelalter nur noch teilweise vorhanden und wurde in der Neuzeit eher zur Ausnahme. Durch das Festhalten am Status quo war damit paradoxerweise eine Veränderung eingetreten: Die Gläubigen verstanden die liturgische Sprache nicht mehr. In einer säkularen, dem barocken Pomp mittlerweile abholden Gesellschaft entwickelte sich deshalb die tridentinische Liturgie aus sprachlichen und weiteren Gründen zusehends in Richtung der Liturgie der Orthodoxen: mystisch, erhaben, aber dem Verständnishorizont des Menschen allzu sehr entrückt.

Deshalb muss man hierzu ebenfalls feststellen: Eine Reform war wirklich notwendig. Aber auch die Liturgie betreffend sind die Anliegen des Konzils bis heute nur von wenigen verstanden. Die Lage ist zudem insofern dramatischer als in Bezug auf die Sendung der Kirche in der säkularen Gesellschaft. Denn während dort „bloß“ Unverständnis, Verwirrung und Nicht-Rezeption des II. Vatikanums herrschen, hat der Papst eine Reform der Liturgie versucht und in Kraft gesetzt. Dass nicht weniges davon nicht vom II. Vatikanischen Konzil verlangt wurde, kann niemand bestreiten. Wie wenig durchdacht die Reform in Teilen war, kann man vielleicht am sinnfälligsten daran ablesen, dass man der vorkonziliaren Liturgie vorwarf, sie sei zu klerusbezogen, was sich ändern müsse. Die nachkonziliare Liturgie hat dann jedoch die Heraushebung des Klerikers gerade auf die Spitze getrieben: Ohne Auftrag durch das Konzil hat sie den Priester am Altar „umgedreht“ und ihn so in die Rolle des Vortragsredners und Alleinunterhalters gestellt ‒ eine Stellung, die er nie zuvor innegehabt hatte. Und dies hat die liturgischen Eigenmächtigkeiten, zuerst der Priester und dann der diese konkurrenzierenden Laien-Liturgiegestalter, erst ermöglicht. Opfer dieser Art der Selbstermächtigung war das Sakrale, der Gottesbezug, der hinter dem Tun und Reden menschlicher Akteure verschwand.

Tragischerweise gehört es zu den Paradoxien der gegenwärtigen kirchlichen Lage, dass diejenigen, die nicht müde werden, vom Hören auf die „Zeichen der Zeit“ zu reden, gerade dazu offenbar nicht in der Lage sind. Dass die jüngere Generation lieber in die eucharistische Anbetung geht, als an wortreichen Eucharistiefeiern teilzunehmen, ist das eine. Das andere ist das Faktum, dass die von der nachkonziliaren Liturgie­reform gekennzeichnete Kirche in vielen Ländern am Ausbluten ist. Hingegen wächst die Teilnahme an der „alten“ Liturgie weiter und zieht einen nicht zu vernachlässigenden Teil der jüngeren Generation an, die noch am sakramentalen Leben teilnimmt. Statt diese Gläubigen zu schikanieren, wäre es an der Zeit, seitens der Kirchenleitung einzugestehen, dass man nach dem II. Vatikanischen Konzil schwere Fehler begangen und viele Gläubige heimatlos gemacht hat, so dass sie instinktiv zum Vorherigen zurückgekehrt sind. Denn wer von der tatsächlichen seelsorglichen Arbeit herkommt, kann nicht leugnen, dass die Liturgie der Kirche aus dem Gleichgewicht geraten ist. Sie hat sich ins andere Extrem der Liturgie der Orthodoxen begeben, indem sie das Sakrale fast ganz verloren hat. Sie fordert ‒ und überfordert ‒ den Geist, aber sie erreicht kaum noch das Herz.
Zweifellos ist auch die Selbstgerechtigkeit derer weder glaubwürdig noch ihrer selbst würdig, die den Verlust an Gläubigen sowie kirchlichem Leben der letzten Jahrzehnte genüsslich auflisten und den nicht zu leugnenden Niedergang dem II. Vatikanum in die Schuhe schieben. Denn ohne dieses Konzil wäre die katholische Kirche eben jener ästhetisch kaschierten Versteinerung bedenklich nahegekommen, an der die Orthodoxie traditionell leidet. Darüber zu spekulieren, wie die Kirche ohne II. Vatikanum heute dastünde, ist müßig und dient nur der Polemik.

Aber Recht haben diese Kritiker durchaus mit ihrer Feststellung: Die Lage der Kirche ist dramatisch. Ein eingeschüchterter und ratloser Episkopat schweigt oder heult mit den Wölfen, während der Niedergang sich beschleunigt fortsetzt. Viele Lehrstühle der Theologie, sogar manche Bischofsstühle, und kirchliche Medien sind von Kräften gekapert, welche die Priester und die verbliebenen Gläubigen mit Forderungen vor sich hertreiben, die als fortschrittlich verkauft werden. Wie erwähnt, verharren diese selbsternannten Kirchenretter jedoch in den Denkschemata der vorkonziliaren Strukturfixierung, sind somit in Wahrheit traditionalistisch und vermögen keinen Lösungsansatz zu bieten.

Man fühlt sich derzeit angesichts des unverkennbaren Niedergangs, der allgemeinen Ratlosigkeit und anachronistischer Rezepte an den alttestamentlichen Propheten Habakuk erinnert, der feststellte: „Zwar blüht der Feigenbaum nicht, an den Reben ist nichts zu ernten, der Ölbaum bringt keinen Ertrag, die Kornfelder tragen keine Frucht; im Pferch sind keine Schafe, im Stall steht kein Rind mehr“ (3,17). Wie Habakuk erfahren die Kirche und ihre Gläubigen derzeit eine schwere Prüfung. In solchen Momenten ist es verlockend, einfache Rezepte anzubieten: Gehen wir zurück hinter das II. Vatikanische Konzil! Und andersherum: Gehen wir voran, lassen wir dieses Konzil hinter uns und bauen wir eine neue Kirche! Das eine führt in die Versteinerung, das andere in die Auflösung.

Hier bedarf es zuerst einmal des Gottvertrauens eines Habakuk. Man fragt sich bisweilen, wo dieses Vertrauen bei den „Reformern“ geblieben ist. Denn von Gott ist in vielen ihrer Projekte kaum noch die Rede. Habakuks düstere Zustandsbeschreibung mündet jedenfalls in den unverdrossenen Satz: „Ich aber will jubeln über den Herrn und mich freuen über Gott, meinen Retter“ (3,18). In der Tat ist es Gott, der gesprochen hat durch seinen Sohn Jesus Christus und der die Kirche durch seinen Geist begleitet auf ihrem Weg durch die Zeit. Zu diesem Werk der Begleitung gehört auch das II. Vatikanische Konzil. Zweifellos liegt es derzeit unter dem meterdicken Schutt missbräuchlicher Interpretationen und vermeintlicher Umsetzungen begraben. Es wird deshalb auch menschlichen Bemühens bedürfen, dieses Konzil auszugraben. Die Anleitung dazu hat Papst Benedikt XVI. in seiner Predigt vom 11. Oktober 2012 gegeben: „Damit (...) dieser innere Antrieb zur neuen Evangelisierung nicht auf der Ebene der Vorstellungen stehenbleibt und nicht zu Verwirrung führt, muss er sich auf ein konkretes und präzises Fundament stützen, und dieses Fundament sind die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, in denen er zum Ausdruck gekommen ist. Darum habe ich mehrmals auf der Notwendigkeit bestanden, sozusagen zum ‚Buchstaben‘ des Konzils zurückzukehren – d. h. zu seinen Texten –, um seinen authentischen Geist zu entdecken, und habe wiederholt, dass in ihnen das wahre Erbe des Zweiten Vatikanums liegt. Die Bezugnahme auf die Dokumente schützt vor den Extremen anachronistischer Nostalgien einerseits und eines Vorauseilens andererseits und erlaubt, die Neuheit in der Kontinuität zu erfassen.“
Das Ineinander von Vertrauen auf die Gegenwart durch das Wirken des lebendigen Gottes einerseits und das Bemühen der Christen als Mitarbeiter der Wahrheit andererseits hat Kardinal Joseph Ratzinger 1985 so beschrieben: „Ob das II. Vatikanum und seine Ergebnisse einmal als lichtvolle Periode der Kirchengeschichte werden gelten können, wird von allen Katholiken abhängen, die dazu berufen sind, ihm Leben zu geben. Wie Johannes Paul II. bei seinem Gedenken an den heiligen Karl Borromäus in Mailand sagte: ‚Die Kirche von heute braucht keine neuen Reformer. Die Kirche braucht neue Heilige‘.“

 


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