5. August 2020 in Chronik
Türkei - Wird der Cudi Dagh vom Krisenherd zum Touristenziel? Und zu welchem Preis? Gastbeitrag von Timo Roller
Istanbul (kath.net) »Sefinet Nebi Nuh« – das Schiff Noahs – so heißt im alten Dialekt der Einheimischen jener ummauerte Platz ganz oben auf dem Berg. Auf aktuellen Bildern ist zu sehen, wie dort Teppiche ausgelegt sind: ein Platz des Gebets. Die britische Forschungsreisende Gertrude Bell hat den Namen vor über 100 Jahren überliefert [1], damals waren die Ruinen noch viel größer, lange ins 20. Jahrhundert hinein haben sich dort noch Pilger verschiedener Glaubensrichtungen versammelt. Noch früher muss an diesem Ort ein Kloster gestanden haben. Er war schon lange ein heiliger Platz. Schon sehr lange!
Der Ort befindet sich 1500 Kilometer östlich der Hagia Sophia, auf die derzeit die christliche Welt blickt. Einst wichtige Kirche des Christentums, später Moschee, von 1935 bis zum 24. Juli 2020 ein Museum – als Ausdruck der Säkularisierung der Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk. Nun beten wieder Muslime, für Erdogan offenbar eine Demonstration der Macht des Islam und des Türkentums in Anknüpfung an die einstige Größe des Osmanischen Reichs. Ein großes Thema in den Medien.
Der Ort Noahs fern im Osten blieb bisher unbeachtet, und dort wird ebenfalls wieder gebetet: an einem Platz, der einst allen Religionen gehörte, der zuletzt von Widerstandskämpfern der kurdischen PKK in Beschlag genommen worden war. Diese Gegend ist seit Jahrzehnten der Brennpunkt des türkisch-kurdischen Konflikts, der ständig schwelt und immer wieder aufflammt. Nun eskaliert er wieder einmal und der Westen nimmt es überhaupt nicht wahr.
In die kurdisch besiedelten Städte und Dörfer um den Berg Cudi Dagh, den ich (und inzwischen viele andere) für den Berg der Arche Noah halte [2], sind 1500 Soldaten einmarschiert, auf dem Gipfel ist als politisches Machtsymbol eine türkische Flagge gehisst worden, Einheiten sind dort stationiert, nachts brennen helle Scheinwerfer. Die Operation nennt sich »Yildirim-1 Cudi« und dauert nun schon einige Tage. Noch im Frühjahr sah in der Gegend alles vielversprechend friedlich aus, wenn Corona nicht gekommen wäre, hätte ich im April 2020 zum zweiten Mal an einem Symposium zum Thema »Arche Noah« an der Universität Sirnak am Fuße dieses Berges teilnehmen können.
Lange Zeit war der Gipfel in etwas mehr als 2000 Metern Höhe verlassen, der traditionelle Landeplatz der Arche war nahezu unzugänglich. Nur ganz selten erreichten ihn einige Forscher und Abenteurer [3], seit etwa 20 Jahren verschanzten sich im Gebirgszug hier und da kurdische Guerillakämpfer, die ein von der türkischen Herrschaft befreites Kurdistan anstreben. Das Vorgehen der Armee war immer wieder heftig, der Cudi Dagh und die Gegend um ihn herum sind quasi Kriegsgebiet.
Im September 2013 war ich dort, in der Stadt Sirnak, und nahm am ersten Symposium zur Arche Noah teil. Wir hatten die begründete Hoffnung, zum Arche-Landeplatz – zur »Sefina« – zu gelangen, möglicherweise sogar mit einem Militär-Hubschrauber. Daraus wurde nichts, ich erzähle die Episode im ersten Kapitel meines Buchs »Das Rätsel der Arche Noah«[4]. Der Konflikt zwischen Kurden und Türken verschärfte sich wieder, spitzte sich schließlich im Jahr 2016 zu, als ein Militärputsch gegen Erdogans Regierung erfolgte und im Gegenzug die Opposition (vor allem Gülen-Bewegung und kurdische Organisationen) massiv bekämpft wurde. Einige Stadtteile von Cizre und Sirnak am Fuße des Cudi glichen Ende 2016 Trümmerfeldern.
Innerhalb weniger Wochen nach dem ausgefallenen zweiten Noah-Symposium hat sich die Lage also auch militärisch wieder zugespitzt: Terroranschläge der kurdischen Kämpfer forderten Todesopfer, eine großflächige Militäraktion lief an, »um die PKK endgültig zu besiegen«. Am Gebirge werden immer wieder Waldgebiete in Brand gesetzt, um die Widerstandskämpfer aus ihren Verstecken zu vertreiben. Bekannte von dort berichten von Gewehrsalven und Granateneinschläge. Alle paar Kilometer seien Straßensperren errichtet. Inzwischen wird die Militäroperation an der irakischen Grenze entlang fortgesetzt, dann weiter nach Norden bis zum Berg Ararat, dem altbekannte Berg, an dem die Arche vergeblich gesucht und nie gefunden wurde.
Die Lage im Kurdengebiet ist kompliziert, die Verbindungen und Feindschaften vielfältig, der Konflikt tief in der Vergangenheit verwurzelt, als die neu gegründete Türkische Republik auf Kosten der zahlreichen Minderheiten eine nationale Identität mit strengen Maßnahmen und immer wieder Gewalt durchzusetzen begann. Auf kurdischer Seite gibt es rivalisierende islamistische und kommunistische Kämpfer, die kurdischen Organisationen erstrecken sich über die Grenzgebiete von Syrien, dem Irak, Iran und der Türkei. Immer wieder wurden die Kurden in ihren Konflikten von Verbündeten enttäuscht und im Stich gelassen. Die türkischen Soldaten werden oft unfreiwillig in die kurdisch besiedelte Provinz versetzt, fernab von den großen Städten. Vor allem von der ländlichen Bevölkerung werden sie unwillkommene Besatzer gesehen und leben in ihren Kasernen.
Christliche und jesidische Minderheiten, deren Glaubensgeschwister zumeist schon in den 1990er Jahren vertrieben wurden, haben es sehr schwer in der spannungsgeladenen Situation zwischen türkischem Nationalismus und kurdisch-sozialistischer Freiheitsromantik, die den Südosten des Landes prägt.
Wer sich an biblischer Geschichte interessiert, ist hier heutzutage am falschen Platz. Ich erfuhr – allerdings erst einige Monate später – von einem Amerikaner, der im Sommer 2013 auf eigene Faust tatsächlich auf dem Gipfel des Berges Cudi war, was uns auf offiziellem Weg verwehrt geblieben war. Der Preis: er wurde von PKK-Kämpfern entführt und von der Armee beschossen. Zum Glück hat er überlebt und konnte seine Erkenntnisse für die Nachwelt festhalten [5].
Im Rahmen der Operation Yildirim ist nun tatsächlich, am 14. Juli 2020, mindestens ein Hubschrauber auf dem Berg Cudi gelandet, direkt unterhalb der »Sefina«. Mit ihm erreichte Kultur- und Tourismusminister Mehmet Ersoy den Gipfel, zusammen mit anderen Politikern und einigen Offizieren. Erwartet von jenen Soldaten, die oben bereits stationiert waren und aus den alten Ruinen offensichtlich einen Gefechtsstand errichtet hatten.
So besuchte der Minister den Landeplatz der Arche und drückte damit den Herrschaftsanspruch der Regierung Erdogans über diese Region aus. Er hielt unter der gehissten türkischen Flagge eine längere Rede über die erfolgreiche Bekämpfung des Terrors – und im »Schiff Noahs« wurden auf den ausgelegten Teppichen muslimische Gebete gesprochen und sogar eine mitgebrachte Ziege geopfert. Der Landeplatz der Arche, fernab des Interesses im ehemals »christlichen« Abendland – heilig und machtpolitisch bedeutsam im Osten der Türkei bis heute. Bedeutsam seit mindestens 2700 Jahren, als damals der auch aus der Bibel bekannte König Sanherib diese assyrischen Randbezirke unter seine Herrschaft gebracht und mit zahlreichen ehrerweisenden Felsreliefs versehen hat.
Minister Ersoy betete und versprach dann: »Heute sind wir hier, bald wird jedermann aus unserer türkischen Nation diesen Gipfel besuchen können, des Berges, auf dem einst die Arche gelandet ist. Freuen Sie sich darauf!« – In der Tat scheint es Bestrebungen zu geben, den Berg für den Tourismus zu erschließen. Auf dem Weg hinauf wurden offenbar Wachstationen eingerichtet, um potentielle Unruhestifter fernzuhalten. Sollte Ersoy den Arche-Noah-Gipfel zu einem leicht zugänglich Ort machen können – bereits beim Symposium 2013 wurde von der Idee einer Seilbahn auf den Gipfel gesprochen – wäre dies vielleicht tatsächlich ein attraktives Reiseziel für Pilger unterschiedlicher Religionen und Konfessionen. Und für mich könnte der Traum in Erfüllung gehen, endlich einmal mit eigenen Füßen diesen Gipfel zu betreten!
Wie hoch mag der Preis sein für die Möglichkeit, als Tourist friedlich den Landeplatz der Arche zu besichtigen? Die Sprache der türkischen Machthaber ist martialisch, das Vorgehen unerbittlich. Auf der anderen Seite sind die Kurden ein sehr freiheitsliebendes und unnachgiebiges Volk, das den Heldentod der Unterwerfung vorzieht. Es gab in den letzten Jahrzehnten über 30.000 Tote auf beiden Seiten – und es ist zu befürchten, dass der Weg zum endgültigen »Frieden« ein blutiger werden könnte.
Mag es aus der Ferne Europas so aussehen, als würde in der Türkei ein Konflikt zwischen Christentum und Islam stattfinden: In Wahrheit ist es viel komplizierter und die Auseinandersetzungen finden auf vielen Ebenen statt. Die Taube aus der Arche, die heute als Friedensbotin gilt, hat ihren Auftrag noch lange nicht erfüllt. Und die Kinder Noahs, mit ihren unterschiedlichen Nationalitäten, Religionen und Ideologien, liegen immer noch miteinander im Streit.
Timo Roller ist Medieningenieur, Buchautor (»Das Rätsel der Arche Noah«, »Bible Earth« u.a.), »Bibelabenteurer« und evangelisch.
Fußnoten:
[1] Siehe: »Das Rätsel der Arche Noah« von Timo Roller, S. 129ff oder http://www.bibelabenteurer.de/html/150203_gertrude_bell.html
[2] Siehe: »Das Rätsel der Arche Noah«, S. 89ff
[3] Siehe: »Das Rätsel der Arche Noah«, S. 117ff
[4] Siehe: »Das Rätsel der Arche Noah«, S. 13ff oder http://www.bibelabenteurer.de/docs/Das-Raetsel-der-Arche-Noah-Timo-Roller.pdf
[5] http://www.bibelabenteurer.de/html/141014_stephen_compton.html
Foto oben: Checkpoint: Immer wieder werden Fahrzeuge an Checkpoints kontrolliert. Eigenes Bild von 2013 © Timo Roller
Foto unten: Panorama - Die Gipfelkette des Cudi Dagh/Türkei, von Sirnak aus gesehen
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